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Keine Heimat


Lagerzwang, Residenzpflicht und die permanente Angst vor der Abschiebung: Deutschland macht es Asylbewerbern so schwer wie möglich, sich heimisch zu fühlen. Das Magazin NEON hat vier von ihnen gebeten, ihren Alltag im Tagebuch zu schildern. Mut gegen rechte Gewalt zeigt die Schilderung von Mira Kurtesi. Sie wohnt in einem Heim in Möhlau, Sachsen-Anhalt.


Von Christoph Henn, zuerst erschienen in NEON 9/2010


Wer Schutz sucht, soll sich nicht auch noch wohlfühlen: Das ist der Tenor der Asylregelungen in Deutschland. Diese sehen vor, dass jeder neue Asylbewerber – 2009 waren das 27 649 Menschen – zunächst für bis zu drei Monate in ein Auffanglager kommt. Ob sich danach die von Abgeschiedenheit und fehlender Privatsphäre geprägten Lebensumstände ändern, ist Glückssache und davon abhängig, wohin jemand verschoben wird. Während in Berlin Asylsuchende in Wohnungen leben dürfen, müssen in den ost- und süddeutschen Ländern die meisten dauerhaft in Sammelunterkünfte. Bundesweit leben laut Pro Asyl mehr als 40.000 Menschen in solchen Lagern, die meisten über Jahre, viele von ihnen haben den Status „geduldet“. Zwei Drittel der Geduldeten in Deutschland haben diesen Status seit mehr als sechs Jahren. „Die Angst vor der Abschiebung und die Isolierung im Lager machen psychisch und körperlich krank“, sagt Alexander Thal vom Flüchtlingsrat Bayern.

Die Isolierung ist kein Nebeneffekt, sondern offensichtlich gewünscht. In der bayerischen Durchführungsverordnung zum Asylverfahrensgesetz etwa heißt es, die Zuweisung in die Unterkunft „soll die Bereitschaft zur Rückkehr in das Heimatland fördern“. Für diese Vergraulstrategie nehmen viele Bundesländer sogar Mehrkosten in Kauf. Nach Berechnungen des Flüchtlingsrats ließen sich allein in Bayern 2,8 Millionen Euro im Jahr sparen, wenn die Bewohner der mehr als hundert Lager in Wohnungen untergebracht würden. Was der Staat durch den Lagerzwang an Geld verschwendet, holt er sich bei den übrigen Leistungen wieder zurück. Der monatliche Gesamtanspruch eines Asylbewerbers wurde vor siebzehn Jahren festgelegt und nie mehr angepasst. Er liegt bei 224,97 Euro – und damit 37 Prozent unter dem durch Hartz IV definierten Existenzminimum. Doch selbst das erscheint vielen Politikern zu hoch. Um sicherzustellen, „dass die sozialen Leistungen ausschließlich zur Bedarfsdeckung (…) dienen“, gibt es in Ländern wie Baden-Württemberg und Thüringen meist Essenspakete und Gebrauchtkleidung oder Gutscheine statt Bargeld. Die Ernährung ist dadurch eintönig und ungesund? Die Flüchtlinge fühlen sich durch die Gutscheine gebrandmarkt? Egal. Lediglich vierzig von den 224,97 Euro sind gesetzlich als Barauszahlung „zur Deckung persönlicher Bedürfnisse des täglichen Lebens“ vorgeschrieben. Ein Viertel des Geldes ist oft schon weg, wenn das Bedürfnis darin besteht, kurz den Bezirk zu verlassen. Das ist nämlich grundsätzlich verboten und nur nach – meist kostenpflichtiger – Ausnahmegenehmigung legal. „Die Residenzpflicht ist ein rassistisches Sondergesetz, das es seit der Abschaffung der Apartheid nur noch in Deutschland gibt“, sagt Flüchtlingsratsprecher Thal.

Doch offenbar zeigt die Gängelung die gewünschte Wirkung: Mit 0,3 Asylanträgen pro tausend Einwohner steht Deutschland nur auf Platz achtzehn in der Europäischen Union. Die „Geduldeten“ Schwan und Mira sowie die Asylsuchenden Abdul und Patrick haben NEON von ihrem Leben im Lager berichtet, einem Alltag, in dem sie täglich spüren, dass sie hier nicht willkommen sind. Mut gegen rechte Gewalt zeigt die Schilderungen von Mira.

Mira Kurtesi, 17 Jahre

Wenn man sehen will, wo in Deutschland Asylbewerber versteckt werden, muss man vorbei an gewaltigen Windkrafträdern und Schweineställen, durch Dörfer und Wälder und landet dann in einem Ort wie Möhlau, einem Dorf bei Wittenberg in Sachsen-Anhalt. Von der „Speisegaststätte“ an der Dorfstraße führt eine enge Straße ohne Wegmarkierung und Beleuchtung an Feldern entlang zum Asylbewerberheim, in dem Mira Kurtesi mit ihrer Mutter und kleinen Schwester seit elf Jahren lebt. Miras Mutter ist mit ihr vor dem Kosovokrieg geflüchtet. Protokoll: Michael Sellger

27. Mai Das Internet funktioniert nicht mehr. Keine E-Mails, keine Musikvideos, kein Kontakt zur Außenwelt. Die Leute vermuten, die Heimleiterin habe es abgeschaltet. Ich bin mir nicht sicher, ob da was dran ist.

31. Mai Habe nach der Schule gekocht und Fernsehen geschaut, so wie jeden Tag. Danach war ich mit Fatma draußen. Sie ist meine einzige Freundin. Wir sind über das Heimgelände spaziert. Außer unserem Wohnblock steht alles leer, überall liegt Müll in den Gebäuden. Die Fenster sind kaputt, und das Gras wuchert. Seitdem ich sechs Jahre alt bin, ist das hier mein Zuhause. In einigen Häusern lebten früher noch Leute, aber wer konnte, ist gegangen. Wenn ich mir eine Stadt zum Leben aussuchen könnte, dann würde ich nach Dessau gehen. Dort leben Freunde von meiner Mutter und mir, und es gibt Arbeit da. Es ist nicht weit weg von Möhlau, aber trotzdem unerreichbar für uns.

2. Juni Heute waren Deutsche hier, die sich das Heim angesehen haben. Sie wollen, dass es geschlossen wird und wir woanders unterkommen. Sie haben Fragen gestellt und Hilfe versprochen. Lange hat sich niemand darum gekümmert, wie wir hier leben.

4. Juni Habe heute Abend für mich und Mama gekocht. Eigentlich dürfen wir keine eigene Küche haben und müssten die Gemeinschaftsküche nutzen. Doch dort stehen nur zwei Herde und ein Tisch. Oft war alles dreckig. So wie wir haben die meisten Heimbewohner aus diesem Grund heimlich ihre eigenen Küchen in ihre Wohnungen gebaut.

5. Juni Mit einer Bekannten war ich in Gräfenhainichen Eis essen. Außer ihr besteht mein Freundeskreis fast nur aus Kindern, Gleichaltrige leben hier nicht. Meine beste Freundin Fatma ist dreizehn. Die Bekannte, mit der ich Eis essen war, ist 26 und sogar schon Witwe. Ihr Mann hat sich im vergangenen Jahr vor ihren Augen verbrannt. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie schlimm das für sie ist. Sie sagt, dass sie oft davon träumt.

6. Juni War mit Fatma wieder spazieren. Haben wie immer eine große Runde ums Heim gedreht. Zu DDR-Zeiten war das hier eine Kaserne. Seit die Soldaten weg sind, ist nicht viel passiert, auch nicht im Wohnhaus. Die Fenster, die Böden und das Treppenhaus, nichts wurde erneuert in all den Jahren. In einem Teil unseres Hauses darf niemand mehr wohnen, weil es dort so viele Kakerlaken gibt.

8. Juni Meine Mutter und ich haben uns gestritten. Ich glaube, sie erträgt die Jahre im Heim noch schlechter als ich. Sie sitzt den ganzen Tag zu Hause und sieht fern. Was soll sie auch machen? Arbeiten darf sie nicht, den Landkreis verlassen auch nicht. Sie muss in Möhlau bleiben und ist jeden Tag mit den gleichen Leuten zusammen.

10. Juni Die Mädchen in der Schule haben wieder nur über Jungs geredet. Ich kann nicht mitreden, denn ich hatte erst einmal einen Freund. Er war auch aus dem Kosovo und lebte mit im Heim. Dann ist er woanders hingekommen. Seitdem hat es nie wieder einen Jungen gegeben.

12. Juni Samstag. Andere Mädchen gehen heute ins Kino oder in die Disko. Ich bleibe bei meiner Mutter und sehe fern. Ich verbringe meine gesamte Jugend in diesem Heim.

14. Juni In zwei Wochen sind Ferien. Viele aus meiner Klasse wissen schon, wohin sie in den Urlaub fahren. Ich bleibe in Möhlau.

15. Juni Es gab Ärger in der Schule, weil ich im Unterricht zu viel geredet habe. Ich frag mich oft, wozu ich überhaupt dahin gehe. Früher wollte ich Krankenschwester werden, doch ich glaube nicht mehr daran. Entweder schiebt man uns eines Tages ab, oder ich werde hier in Möhlau alt. Fernsehen und Spazierengehen mein ganzes Leben lang.

17. Juni Das Internet funktioniert endlich wieder.

Foto: von Katunia, via Flickr, cc

Keine Heimat, 2. Teil

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Asylbewerberheim