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Was Alltagsrassismus ist, muss man Reiner Andreas Neuschäfer und seiner Familie nicht erklären. Sie haben es erlebt. Das Verwaltungsgericht Thüringen und der Schulamtsleiter von Rudolstadt, Dieter Kunstmann, scheinen das nicht zu verstehen.
Von Martin Jander
Sieben Jahre lang ertrug Familie Neuschäfer in Rudolstadt (Thüringen) den dort offenbar für ganz gewöhnlich gehaltenen Alltagsrassismus. Frau Neuschäfer und ihre Kinder sind dunkelhäutig und waren immer wieder verschiedensten Diskriminierungen und Attacken ausgesetzt. In der Fußgängerzone wurde Frau Neuschäfer bespuckt; die Kinder mussten sich in der Schule rassistische Äußerungen anhören. Der Sohn wurde gar auf dem Schulhof verprügelt. Eine ganze Zeit lang ging Frau Neuschäfer nicht vor die Tür, um nicht wieder irgendwelcher Anmache ausgesetzt zu sein. 2007 zog die Familie fort aus Rudolstadt. Nun ist der Fall vor Gericht.
„Am Sonntag hatte ich am meisten Angst“
Am 29. September 2010 verhandelte das Verwaltungsgericht in Gera eine Klage von Reiner Andreas Neuschäfer gegen das Schulamt in Rudolstadt. Dieter Kunstmann, der Schulamtsleiter, war im Juli 2008 mit einer Presseerklärung an die Öffentlichkeit getreten, in der er eine Schilderung des Sohnes von Reiner Andreas Neuschäfer, Jannik, in einer Sendung der ARD-Tagesthemen vom 9. April 2008, als falsch bezeichnete. Jannik hatte auf eine Frage des ARD-Reporters gesagt: „Am Sonntag hatte ich am meisten Angst. Ich wusste immer – am Montag werde ich verprügelt. Ich weiß das nämlich, das ist denen so angewohnt. Die haben mich immer am ersten Tag der Woche verprügelt“.[1] Kunstmann sagte zu diesem Ausschnitt aus dem Interview: „Die Behauptung ist falsch.“[2] Er sagte: „Der Vater des Schülers, Pfarrer Reiner Andreas Neuschäfer, hat in Gesprächen am 11. und 25. April keine Belege erbringen können, die diese Behauptung stützen.“[3] Für die Vorwürfe der Montagsprügeleien gäbe es keinerlei Anhaltspunkte oder Hinweise. Familie Neuschäfer habe über solche Vorfälle nicht berichtet. „Die Schule hat zu jedem Zeitpunkt richtig gehandelt“, meinte Kunstmann.[4] Dabei ging es bei der Äußerung von Jannik gar nicht darum, dass er jeden Montag verprügelt wurde. Vielmehr befürchtete er schon sonntags, wieder verprügelt zu werden, weil dies schon häufiger vorgekommen war.
Abgeschlossene Untersuchungen?
Reiner Andreas Neuschäfer hatte gegen zweierlei geklagt. In gemeinsamenGesprächen im Jahr 2008 hatten beide Seiten verabredet, mit den Ergebnissen nicht an die Öffentlichkeit zu treten. Es handelte sich bei ihren Treffen eher um ein persönliches Gespräch darüber, wie man Formen des Rassismus und der Diskriminierung in der Bildungspraxis der Schule entgegenwirken könne.
Außerdem hatte Reiner Andreas Neuschäfer gegen die Behauptung geklagt, er habe während dieser Gespräche keinerlei Belege für die regelmäßigen Angriffe auf seinen Sohn beibringen können. Dies war überhaupt nicht der Gegenstand seiner Gespräche mit dem Schulamtsleiter. Außerdem wird er mit dieser Darstellung der Lüge bezichtigt. Er fordert deshalb die öffentliche Zurücknahme der Behauptung.
In der Verhandlung vor Gericht zeigte sich deutlich, dass weder das Gericht noch der Schulamtsleiter verstehen, wie Alltagsrassismus funktioniert. Frau Neuschäfer wurde in Geschäften Rudolstadts nicht bedient und auf der Straße angespuckt. Beim Einkaufen war ihr zugerufen worden: „So was wie Dich hätte man früher zwangssterilisiert.“ Eine ganze Zeit traute sie sich kaum aus dem Haus. Die Kinder der Neuschäfers wurden im Kindergarten und in der Schule, ohne dass Erzieher und Lehrer energisch einschritten, isoliert und schikaniert. Der Sohn Jannik Neuschäfer wurde von Jugendlichen einmal fast ertränkt. Gespräche mit Erziehern waren wirkungslos geblieben, viele Nachbarn und Freunde hatten mit den Schultern gezuckt und Ermittlungen der Polizei waren ergebnislos geblieben.
Gericht und Schulamtsleiter beriefen sich auf die Untersuchung, die das Schulamt 2008 angestellt hat und auf eine eingestellte staatsanwaltliche Ermittlung zu einer Schulhofprügelei am 25. April 2007, bei der Jannik Neuschäfer schwer verletzt wurde. Dieser tätliche Angriff hatte das Fass der jahrelangen Diskriminierungen, Beleidigungen und Angriffe sowie die Untätigkeit derjenigen, die sie beobachteten, schließlich zum Überlaufen gebracht. Miriam Neuschäfer und ihre Kinder waren im Herbst 2007 in die Nähe von Köln (Nordrhein-Westfalen) gezogen, Reiner Andreas Neuschäfer hatte in Rudolstadt noch einige Monate weiter gearbeitet und war seiner Familie dann gefolgt.
Kein Rassismus?
Nachdem die Schule die Prügelei vom 25. April 2007 nicht weiter untersuchte ging Reiner Andreas Neuschäfer mit seinem Sohn zur Polizei und erstattete Anzeige. Die Polizei erschien daraufhin in der Schule und befragte Schüler. Doch aufgrund der Strafunmündigkeit der in Frage kommenden Schüler wurden die Ermittlungen eingestellt.
In der jetztigen Verhandlung verwiesen der Richter und der Verteidiger des Schulamtsleiters darauf hin, dass Jannik Neuschäfer in seiner Vernehmung bei der Polizei 2007 gefragt worden war, ob die Prügelei etwas mit seiner Hautfarbe zu tun gehabt habe. Das hatte er verneint. Problem war nur, dass Beleidigungen wie „Nigger“ und „Chinese“ bei der Prügelei sehr wohl gefallen waren. Jannik berichtete auch davon und sogar die Schulleiterin, Angelika Swirszcuk, räumte dies auf einer Pressekonferenz ein.[5] Das Wort Hautfarbe war eben nicht gefallen. Gericht und Schulamt beharrten auf der halben Aussage Janniks und erwarteten, dass Familie Neuschäfer Beweise bringe und sich für das eigene Verhalten und die Berichterstattung der Medien rechtfertige.
Auch Untersuchungen des Schulamtes im Sommer 2008 hält das Gericht für ausreichend und sorgfältig. Die Untersuchungen bestanden aber, soweit dies in der mündlichen Gerichtsverhandlung am 29. September sichtbar wurde, lediglich in einer Befragung der Schulleitung und Lehrerinnen der Anton-Sommer-Schule sowie der Mitarbeiter des Schulpsychologischen Dienstes der Schule.
Allerdings wurden wohl, so Reiner Andreas Neuschäfer während der Verhandlung, weder Jannik noch die Schüler angemessen interviewt und auch die Kinderärztin, die die Verletzungen Janniks untersuchte, nicht befragt. Ebenso eine Religionslehrerin, die die Vorfälle beobachtet und mit Familie Neuschäfer darüber in Kontakt stand, konnte zwar alles bestätigen, sich aber nicht frei äußern. Hinzu kommt, dass viele potentielle Zeugen Angst haben, sich zu äußern. Die ZEIT berichtete 2009 über Eltern von ehemaligen Mitschülern von Jannik und Nachbarn, die zwar von den Vorfällen wussten, sich aber nicht trauten, offiziell zu berichten.[6]
Noch einiges zu besprechen
Schulamtsleiter Dieter Kunstmann macht in der Gerichtsverhandlung für seine Presseerklärung im Juli 2008 geltend, er habe die Schule und die Stadt gegen den „Presserummel“ und das „Geschrei“ in den Medien 2008 in Schutz nehmen wollen. Er hält Reiner Andreas Neuschäfer für den Verantwortlichen der kritischen Presseberichterstattung über Rudolstadt im Jahr 2008. Der Ruf der Stadt habe auf dem Spiel gestanden. Einmal mehr gilt Rassismus als Imageschaden und die Betroffenen als Nestbeschmutzer.
Einem vom Verwaltungsrichter ins Gespräch gebrachten Vergleich zwischen den Parteien unter der Bedingung, dass Schulamt und Reiner Andreas Neuschäfer sich erneut zu einem Gespräch zusammenfinden, verweigert sich Herr Kunstmann zunächst – auch mit Verweis auf einen im Saal anwesenden Vertreter der Presse, den wohl, so nimmt er an, Herr Neuschäfer mitgebracht habe. Er will nicht, dass in der Zeitung steht, er und Reiner Andreas Neuschäfer hätten sich geeinigt.
Nach einer kurzen Verhandlungspause wird jedoch vom Verwaltungsgericht ein Prozessvergleich verkündet. Das Verfahren wird mit der Auflage eingestellt, dass Schulamt und Reiner Andreas Neuschäfer sich noch in diesem Jahr zu einem ergebnisoffenen Gespräch zusammenfinden. Es gibt also doch noch einiges zu besprechen. Auch noch drei Jahre nach der Flucht der Familie Neuschäfer aus Rudolstadt - einer Stadt, die ihre Bürger offensichtlich nicht vor dem alltäglichen Rassismus schützen konnte.
Foto: Reiner Andreas Neuschäfer am Denkmal „Für Toleranz“ von Volkmar Kühn (2001) am Puschkinplatz in Gera, keine 200 Meter vom Justizpalast in Gera entfernt, von Martin Jander, c
[1] Mitschnitt der Sendung „Tagesthemen“ vom 9. April 2008.
[2] Heike Enzian, Montagsprügelein gab es nicht, Ostthüringer Zeitung vom 18. Juli 2008.
[3] Ebenda.
[4] Ebenda.
[5] Markus Decker, Heimatlos im Lutherland. Eine protestantische Pfarrersfamilie auf unfreiwilliger Wanderschaft zwischen Ost und West, in: Wilhelm Heitmeyer (Hg.): Deutsche Zustände 7, Frankfurt am Main 2009, S. 209-217, hier S. 210.
[6] Hauke Friederichs, Ossi-Hasser und auch noch schwarz, in: Die Zeit vom 26. Februar 2009, S. 8.