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Nicht nur in Dresden ist ein nationalistischer Opferkult seitens neonazistischer Gruppierungen zu beobachten. Auch in Magdeburg demonstrieren jährlich Neonazis zum Jahrestag der Bombardierung der Stadt, dem 16. Januar. Und es werden immer mehr Teilnehmer, die den Zusammenhang zwischen deutschem Vernichtungskrieg und alliierten Bombardements verneinen.
In Magdeburg gelingt es Rechtsextremisten nach wie vor, sich mit jährlich wiederkehrenden Aufmärschen und Ritualen zum angeblichen Gedenken an die Zerstörung der Elbestadt durch alliiertes Luftbombardement am 16. Januar 1945 öffentlich in Szene zu setzen. Bedauerlicherweise wächst die Zahl der Teilnehmer. 2010 fanden sich ca. 1.000 Personen aus diesem Umfeld zu einem „Gedenkmarsch“ ein, der gezielt auch als Auftakt für die noch umfangreicheren alljährlichen Demonstrationen in Dresden im Februar propagiert wird.
Die seit zehn Jahren in Magdeburg hervortretende rechtsextreme Magdeburger „Initiative gegen das Vergessen“ diffamiert aus Anlass des 16. Januars regelmäßig demokratische zivilgesellschaftliche Akteure. Man verneint den Zusammenhang zwischen alliierten Städtebombardements und dem Angriffs- und Vernichtungskrieg deutscher Aggressoren gegen europäische Nachbarstaaten und warnt vor der angeblichen geschichtspolitischen Manipulation durch die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges.
Wissenschaftliche Fakten?
Einhergehend mit der Beschwörung eines nationalistischen Opferkults wird zugleich die Singularität des Völkermordes an den europäischen Juden bestritten: „Während vermeintliche Opfer des Holocaustes (sic) sogenannte Stolpersteine gesetzt bekommen, beklagt sich niemand über die fehlende würdige Ehrung unserer Toten“, heißt es in einer typischen Stellungnahme zu solchen Kundgebungen. *1 Die 2008 erhobene Forderung nach 17.000 Stolpersteinen für deutsche Opfer des Luftkrieges in Magdeburg ist vor diesem Hintergrund alles andere als zufällig. Neben der Relativierung der Shoah greifen die Rechtsextremisten gezielt auf eine Symbolzahl zurück, die durch die lokale DDR-Geschichtspolitik zum Dogma erhoben worden war. Lange Zeit war die Zahl von 16.000 zivilen Toten vor Ort Ausdruck einer Stilisierung zur „Märtyrerstadt“, selbst dann noch, als Mitte der 80er Jahre lokalgeschichtliche Forschungen nachweisen konnten, dass wesentlich weniger Menschen umgekommen waren. *2 Die nochmalige Steigerung der Opferzahl verfälscht angesichts der bisherigen Ergebnisse seriöser Geschichtswissenschaft tatsächlich die historischen Ereignisse und verdeutlicht, wie es den Rechtsextremisten um eine Verzerrung der historischen Fakten zu tun ist. Im Unterschied zu den 80er Jahren ist das Opfer der Bevölkerung allerdings nach dieser Lesart für die „Volksgemeinschaft“ gebracht worden. Den Alliierten wird dagegen unterstellt, sie hätten allein aus „Kriegslust“ gehandelt. Im Vorfeld des „Trauermarsches“ 2010 modifizierte die NPD unter Berufung auf pseudowissenschaftliche Quellen nun wieder die Angabe der Opferzahl auf 16.000 Personen. Man darf annehmen, dass diese Symbolzahl noch Teil des kommunikativen Gedächtnisses in Magdeburg ist und der rechtsextreme Appell entsprechend auf Resonanz stößt.
Vorgeschobenes Gedenken
Das vorgeschobene Gedenken zielt auf eine Relativierung deutscher Schuld und Verantwortung und explizit des bespiellosen Mordes an den europäischen Juden ab. Dies geschieht durch die Proklamation des Opferstatus für deutsche Zivilisten, die auf die gleiche Ebene oder – der völkischen Ideologie folgend – noch über jene jüdischen Opfer gerückt werden. Seinen prominentesten Ausdruck findet dieser Relativismus im Unwort „Bombenholocaust“.
Gängige Praxis ist ferner die Selbsterhöhung zum Anwalt einer angeblich stimmlos gemachten Bevölkerung, der vielbeschworenen „schweigenden Mehrheit“, wobei sich Rechtsextreme als einzig verbliebene Wahrer eines würdigen Andenkens an Leidtragende auf deutscher Seite selbst rühmen. Solche Pauschalisierungen haben mit der Entwicklung der Gedenkkultur jenseits des Rechtsextremismus wenig zu tun.
Zivilgesellschaftliche Initiative
2009 und 2010 gelang es einem breiten gesellschaftlichen Magdeburger Bündnis allerdings, der rechtsextremen Demonstration die „Meile der Demokratie“ entgegenzusetzen. Die Demokratiemeile nutzt den zentral in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Breiten Weg – seit je her eine der Hauptachsen der gut 1.200jährigen Stadt –, der tatsächlich etwa die Länge des angloamerikanischen Längenmaßes aufweist. Mehr als 5.000 Magdeburger Bürger nahmen in diesem Jahr an den Aktionen auf der „Meile“ teil oder waren Gast an einer der fünf Bühnen. Der Wunsch, der Geschichtsklitterung entgegenzutreten, vereinte 120 Gruppen, Künstler, Vereine und öffentliche Einrichtungen, und das bunte Spektrum reichte hier von der Wohnungsgesellschaft über den Segelfliegerclub bis hin zum Kabarett. Die Landeshauptstadt selbst unterhielt frühzeitig ein Koordinationsbüro zur Organisation und Vorbereitung. Ein wesentlicher Effekt der „Meile“ bestand wie im Jahr zuvor darin, damit den Rechtsextremisten Kundgebungen an sensiblen Orten der Innenstadt unmöglich zu machen, wie etwa am Mahnmal für die ermordeten Magdeburger Juden auf Höhe der ehemaligen Synagoge.
Geschichtsverdrehungen kann man nicht ignorieren
In Zukunft sollte es darum gehen, auf der Grundlage gesicherter historischer Erkenntnis der geschichtsrevisionistischen Provokation zu begegnen und diese als Mittel zum Zweck zu enthüllen. Mit juristischen Mitteln allein kann diese Auseinandersetzung nicht entschieden werden, vielmehr bedarf es überzeugender historisch-politischer Argumente und Bildung. Sprachliche Sensibilität sollte dem Begriff des Opfers und seiner Verwendung entgegengebracht werden. Auch wenn es als Zumutung erscheinen mag, sich Themen gleichsam aufzwingen zu lassen, ist bloßes Ignorieren der Geschichtsverdrehungen das größere Übel.
Von Maik Hattenhorst
Foto: "Meile der Demokratie und Demoabsicherungen", von tm-md via flickr, cc
Anmerkungen:
*1 Zitat hier von JN Sachsen-Anhalt.
*2 Vgl. Jörg Arnold: “Nagasaki” in der DDR. Magdeburg und das Gedenken an den 16. Januar 1945, in: Luftkrieg. Erinnerungen in Deutschland und Europa, hrsg. v. ders. / Dietmar Süß, Malte Thießen, Göttingen 2009 (=Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. 10).
*3 So erinnerte die sachsen-anhaltische Landeshauptstadt beispielsweise 1995 mit einer Ausstellung und umfangreichen Dokumentation an das Luftbombardement am 16. Januar 1945.