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Nicht länger in der Opferrolle sein

Anfang dieser Woche, von Montag den 8.9. bis Mittwoch den 10.9. fand zum dritten Mal die Sommeruniversität gegen Antisemitismus statt. Veranstalter war erneut das Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin. In diesem Jahr standen Alltagsantisemitismus und Vorurteile der Mehrheitsgesellschaft gegenüber anderen Minderheiten wie zum Beispiel Sinti und Roma oder Muslimen im Fokus der Veranstaltung.

Von Sarah Köneke

Es war ein bunt gemischtes Publikum, das gebannt den Vorträgen der verschiedenen Professoren lauschte. Mit der Sommeruniversität sollen gezielt Multiplikatoren aus Medien, Schule, Erwachsenen- und Berufsbildung, der Politik und Gewerkschaften angesprochen werden, es waren aber auch viele Studenten anwesend. Die Teilnehmer kamen nicht nur aus Berlin oder Umgebung, sondern zum Teil aus ganz verschiedenen Regionen Deutschlands.

Ein von vielen Teilnehmern mit besonderer Spannung erwarteter Teil der Veranstaltung fand am Dienstagabend statt. Lala Süsskind, die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Berlin kam zu einem Gespräch mit Prof. Dr. Wolfgang Benz, der das Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin und somit auch die Sommeruniversität leitet. Das Gespräch sollte vor allem der Frage nachgehen, wie die Minderheit die Mehrheit sieht.

Lala Süsskind wurde 1946 in Reichenbach in Polen geboren und kam bereits 1947 mit ihrer Familie nach Berlin und wuchs hier auf. Sie gehört somit zu den ‚alteingesessenen Juden’ in Berlin. Damit ist sie auch innerhalb ihrer Gemeinde eine Minderheit, die heute zu 70 bis 80 Prozent aus russischsprachigen Einwanderern besteht. Insgesamt hat die Gemeinde etwa 11.000 Mitglieder und beschäftigt 400 Mitarbeiter. Die Infrastruktur der Berliner jüdischen Gemeinde ist recht ausgeprägt, es gibt neun Synagogen, zwei Gemeindehäuser, vier Friedhöfe, einen Kindergarten, eine Grundschule und eine weiterführende Schule, Seniorenzentren und sogar eine Volkshochschule. Somit kann Lala Süsskind zu Recht behaupten, die Führung der Gemeinde sei wie die Führung einer Kleinstadt. Vor allem die verschiedenen Gruppen innerhalb der Gemeinde zusammen zu halten wird schwer und wohl die Hauptaufgabe für Lala Süsskind, die erst seit Anfang dieses Jahres Vorstand der Gemeinde ist.

Lala Süsskind fühlt sich nicht als Minderheit

Lala Süsskind ist selbstbewusst. Sie sieht sich nicht als Minderheit. Auf die Frage von Prof. Dr. Benz nach der Sicht der Minderheit auf die Mehrheit begann sie zunächst von ihrer Kindheit zu berichten. Sie sagte, sie sei ihren Eltern dankbar, dass diese sie nicht als Minderheit erzogen haben, sondern als Mensch. Sie wuchs mit dem Gefühl auf, genau wie alle anderen Menschen zu sein, die um sie herum lebten. So wusste Lala Süsskind bis zu ihrer Einschulung nicht einmal, dass es unterschiedliche Religionen gibt. Sie ging zur Synagoge und das war normal. Sie dachte, alle machen das. Dass sie damit in der Minderheit war und die meisten anderen Menschen in ihrem Umfeld einen anderen Glauben haben, wusste sie nicht. Erst als in der Schule die verschiedenen Religionsklassen eingeteilt wurden und plötzlich von Protestanten, Katholiken und Juden die Rede war, merkte sie, dass es noch andere Glaubensrichtungen gibt. Auch über den Holocaust hatten ihre Eltern nicht mit ihr gesprochen. Sie erfuhr erst von der Verfolgung und Ermordung der Juden im Nationalsozialismus, als der Holocaust in der dritten oder vierten Klasse zum Thema im Schulunterricht wurde.

Auf dem Schulhof angepöbelt

In der Schule erlebte sie auch ihre erste und, wie sie betonte, einzige direkte Konfrontation mit Antisemitismus. Ein anderes Mädchen, das Lala Süsskind gar nicht kannte, nannte sie auf dem Schulhof eine „scheiß Jüdin“. Lala Süsskind erzählte, dass sie die Situation nicht verstand und sich fragte, wie das Mädchen so etwas sagen könne, obwohl es sie ja gar nicht kannte. Daraufhin ging sie zum Schuldirektor und das Mädchen wurde von der Schule verwiesen. Danach erlebte sie laut eigener Aussage nie wieder etwas Ähnliches. Lala Süsskind kann sehr gut reden. Sie wirkte fröhlich und freundlich und es macht Spaß ihr zuzuhören. Doch immer wenn das Gespräch oder die Fragen der Zuhörer das Thema Antisemitismus berührten, wirkte sie doch etwas zu fröhlich wenn sie behauptete, dass sie das gar nicht oder kaum bemerken würde.

Im Zusammenhang mit Antisemitismus wurde sie nur einmal sehr deutlich als sie von der Schändung jüdischer Friedhöfe sprach. An dieser Stelle wurde ihre Wut deutlich und vor allem auch ihr Ärger über völlig unangemessene Reaktionen wie eine solche Schändung einen „Dummejungenstreich“ zu nennen. Diese „Streiche“ passierten immer nur auf jüdischen Friedhöfen und nicht auf christlichen. Die Schändungen sind eben kein dummer Streich, sondern gezielte antisemitische Handlungen. Als ein Zuhörer sie auf den Überfall auf Schüler der jüdischen Oberschule im Januar dieses Jahres ansprach, antwortete sie nur, dass auch nicht-jüdische Kinder auf diese Schule gehen würden und auch unter den angegriffenen Jugendlichen nicht-jüdische waren. Leider gebe es überall Wahnsinnige.

Nicht länger nur diskriminierte Minderheit und Opfer sein

Es wurde von Seiten der Zuhörer immer wieder nachgefragt und auf das Thema Antisemitismus zurückgekommen. Das Gespräch war am Abend des zweiten Veranstaltungstages. Die Teilnehmer hatten bereits in den verschiedenen Vorträgen gehört, dass der Antisemitismus auch heute noch in der Mitte der Gesellschaft verankert ist und nicht nur ein rein rechtsextremes Randerscheinungsbild ist. Sie erfuhren von erschreckend hohen Zahlen von Menschen mit antisemitischen Denkansätzen in den Statistiken. Und sie haben in den Workshops am Nachmittag diskutiert, wie man in der Zivilgesellschaft Antisemitismus und Rassismus begegnen und bekämpfen kann und welche Hilfsmittel und Projekte es dafür gibt. Es war komisch für die meisten, am Abend von der Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Berlin zu hören, dass sie und auch ihre Gemeindemitglieder kaum direkten Antisemitismus oder Diskriminierung spüren würden. Es gab auch einige Wortmeldungen in denen gefragt wurde, wie sich denn diese ‚praktischen Erfahrungen’ mit den theoretischen Ergebnissen der Forschung vertragen könnten.

Verborgener Hass in Köpfen?

Lala Süsskind empfindet keine tägliche Bedrohung durch Antisemitismus. Man möchte ihr natürlich gerne alles glauben, eben weil es wirklich ein bisschen nach heiler Welt klingt. Das soll es vielleicht auch. Doch ihre Aussagen bestätigen teilweise auch die Ergebnisse der wissenschaftlichen Studien, die zuvor in den Vorträgen besprochen worden waren. Es war oft die Rede davon, dass der Antisemitismus aus der Mitte kommt und dort in vielen Köpfen verankert ist. Aber oft sind das eben auch jene Köpfe, die wissen, dass es gefährlich sein kann, solche Denkweisen offen zu äußern. Sie sind antisemitisch, nach außen fällt es aber nicht auf. Aber nur weil es sich in der Mitte häufig um versteckten Antisemitismus handelt ist er nicht weniger gefährlich, er fällt nur weniger auf.

Vor allem aber scheint es so, dass Lala Süsskind sich einfach nicht länger in eine Opferrolle drängen lassen will. Sie erscheint als sehr offene und durchsetzungsfähige Person, die Rolle des Opfers passt nicht zu ihr. Und auch die jüdische Gemeinde Berlins erscheint durch ihre couragierte Vorsitzende in einem neuen, positiven und sehr selbstbewussten Licht. Die Botschaft von Lala Süsskind war deutlich und beeindruckend: Sie und die Gemeinde sind in Berlin und in Deutschland zuhause. Und sie wollen sich nicht länger als diskriminierte Minderheit und als Opfer fühlen. Sie wollen einfach nur ungestört hier leben und ihren Glauben praktizieren. Nicht mehr und nicht weniger.

Vom 13.9. bis 21.9.2008 finden übrigens die jüdischen Kulturtage in Berlin statt. Darüber hinaus betonte Lala Süsskind in dem Gespräch, dass die jüdische Gemeinde aber auch sonst jederzeit für Interessierte offen ist. Mehr unter: http://www.juedische-kulturtage.org/programm.html

www.mut-gegen-rechte-gewalt.de /Foto: hk


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Sommeruniversität gegen Antisemitismus, Programmheft