In Leipzig instrumentalisieren Rechtsextreme den Mord an der achtjährigen Michelle. Sie treten bei Gedenkveranstaltungen auf und fordern die Todesstrafe für Kinderschänder. Ein Onkel des Mädchens gilt selbst als rechtsextrem und engagiert sich bei den Demonstrationen. Die Eltern dístanzieren sich von dem Treiben. Ein Gastbeitrag aus stern.de.Von Lars Radau, Leipzig
Auf einmal geht alles ganz schnell: Ein bulliger Mann mit kurzen Haaren gibt fast im Plauderton einige Kommandos. Einige Minuten später hat sich die Anmutung der Gedenkdemonstration für die ermordete Michelle komplett gewandelt. Angemeldet hatte die Demonstration eine Mutter einer Mitschülerin des Mädchens. Aber jetzt stehen plötzlich schwarz gekleidete Jugendliche an der Spitze des Zuges, der sich vor der Schule des Mädchens im Leipziger Stadtteil Anger-Crottendorf formiert. Einige tragen Sonnenbrillen. Später werden sie schwarze Fahnen schwenken und Fackeln tragen. Hinter ihnen hat sich eine Gruppe junger Frauen gebildet. Sie tragen ein großes, zusammengerolltes Transparent. Als sich der Zug in Bewegung setzt, in Richtung des etwa anderthalb Kilometer entfernten Naherholungsgebiets "Stötteritzer Wäldchen", in dem Michelles Leiche gefunden wurde, entfalten die Frauen mit Hilfe einiger Sonnenbrillenträger das Transparent. Ein schwarzer Galgen wird sichtbar, und eine Parole. "Todesstrafe für Kinderschänder", steht da geschrieben. Die Forderung ist seit dem Mord an dem kleinen Mitja im Februar vergangenen Jahres in Leipzig Erkennungs- und Mobilisierungsinstrument der Neonazi-Szene. Sie findet sich, vorzugsweise in Frakturschrift, auf den Heckscheiben der Autos führender Szene-Köpfe. Und sie greift die Emotionen und Ängste der Eltern und Anwohner des Stadtteils auf. Die Neonazis versuchen, so bei der Bevölkerung zu punkten.
Beredtes Schweigen
Denn obwohl die Polizei aus ermittlungstaktischen Gründen eine Nachrichtensperre verhängt hat und bislang bewusst im Unklaren lässt, wie Michelle ums Leben kam, ist für die meisten Anteilnehmenden, die an der Schule oder nahe des Fundortes Blumen und Kuscheltiere ablegen, der Fall klar: Es kann sich nur um ein Sexualverbrechen gehandelt haben. Schließlich hatte die Polizei bereits unmittelbar nach Eingang der Vermisstenanzeige am Montag vergangener Woche begonnen, ihre Dateien nach einschlägig bekannten Sexualstraftätern zu durchforsten, die in der näheren Umgebung oder der Stadt gemeldet waren.
Dass die Emotionen in dieser Situation hochkochen, findet Polizeisprecher Uwe Voigt zwar "menschlich nachvollziehbar". Dass die Neonazis das Verschwinden von Michelle sofort für sich ausnutzten - bereits am folgenden Dienstag organisierten sie erste Suchtrupps "aufrechter volkstreuer Bürger", die die Polizei unterstützen wollten - kommentiert er offiziell nicht. Sein Schweigen ist dafür um so beredter.
Rechtsextreme rühmen sich selbst
Denn die Ermittler hatten offenbar von Anfang an mit dieser ungebetenen Hilfe rechnen müssen: Istvan Repaczki, der Onkel der ermordeten Michelle, ist sowohl für die Polizei als auch für den Verfassungsschutz ein alter Bekannter. Der schmächtige rothaarige Brillenträger, der offiziell in der Nähe von München gemeldet ist, gilt der Polizei als Aktivist der Leipziger Gruppe "Nationale Sozialisten" und ist in anderen Zusammenhängen bereits selbst als Anmelder von Neonazi-Demos im Nachbarstadtteil Reudnitz in Erscheinung getreten. Nach der Ermordung Michelles sprach er auf mehr oder weniger spontanen Kundgebungen der rechtsextremen Szene.
Auf Internet-Seiten wie dem rechtsextremen Informationsportal altermedia.info oder einem Blog der "Freien Szene aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen" wird einerseits die "umfassende Strategie", mit der die Ermordung Michelles besetzt wurde, ebenso gerühmt wie die schnelle Organisation von teilweise mehreren hundert Teilnehmern, Fackeln und Transparenten. Nach anfänglicher Offenheit gegenüber einigen Medien ist Repaczki mittlerweile für Journalisten nicht mehr zu sprechen. Auch auf Anrufe von stern.de reagierte er nicht.
Andererseits wird fast im gleichen Atemzug betont, es gehe "einzig und allein um Michelle, nicht um 'Storys' oder politische Hintergründe". Einige Zeilen weiter indes ist zu lesen, dass "Kinderschänder" aufgrund einer "Störung im Kleinhirn nicht heilbar seien", weswegen es "für solche Subjekte keine andere Strafe als die Todesstrafe" geben könne. Etwas moderater im Ton, aber ohne Abstriche in der Sache sprang auch die NPD-Landtagsfraktion auf das Thema: Am vergangenen Donnerstag, als Michelles Tod bekannt wurde, ließ Fraktionschef Holger Apfel in einer Pressemitteilung verbreiten, seine Partei sehe sich durch "den aktuellen Fall in Leipzig" in ihrem stetigen Eintreten "für die Todesstrafe für Kindermörder" bestätigt.
Eine "üble Geschichte"
Wie gezielt die Neonazis mit Symbolen spielen, zeigt auch die Planung für die nächste große Demonstration. Sie ist nach Angaben der Stadtverwaltung für den kommenden Montag angemeldet. Der Begriff "Montagsdemonstration", der offenbar auch auf Flyern gezielt eingesetzt wird, hat in der Stadt bislang eine positive Tradition: Mit montäglichen Massenumzügen um den Ring trugen die Leipziger 1989 mit dazu bei, die DDR ins Wanken zu bringen.
Darüber ist nicht nur Christian Führer aufrichtig empört. Der inzwischen pensionierte Pfarrer der Leipziger Nikolaikirche, die zu Wendezeiten Start- und Brennpunkt der Montagsdemonstrationen war, nennt es eine "üble Geschichte", das "Leid von Menschen für politische oder wie auch immer geartete Zwecke zu missbrauchen". Das habe mit den ursprünglichen Montagsdemonstrationen "nichts zu tun", sagte er der "Leipziger Volkszeitung". Auch für Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung ist die "Vereinnahmung des schrecklichen Mordes durch Rechtsextremisten abscheulich und menschenverachtend." Der Versuch, den Zorn über die Tat mit platten populististischen Sprüchen zu instrumentalisieren, sei eine "Verhöhnung des Opfers und der Leidtragenden".
Michelles Eltern distanzieren sich
Doch viel mehr als starke Worte und Appelle an die "normalen Bürger", genau "darauf zu achten, sich nicht vereinnahmen zu lassen", haben Stadt und Polizei aktuell nicht zu bieten. Denn bei ihren Aktionen achteten die Rechtsextremen genau darauf, gegen kein Gesetz zu verstoßen. "Die haben durchaus gelernt", heißt es hinter vorgehaltener Hand aus dem Leipziger Rathaus. Denn bislang hatten Polizei und Stadtverwaltung bei Neonazi-Demonstrationen in der Messestadt unter anderem darauf gesetzt, bei Verstößen gegen Auflagen oder Gesetze sofort und konsequent einzuschreiten. Gegen Transparente wie "Todessstrafe für Kinderschänder" oder selbst die im Laufe der okkupierten Kundgebung entfaltete Parole "Nationaler Sozialismus - jetzt" gebe es aber keine rechtliche Handhabe, heißt es bei der Polizei.
Vermutlich werden selbst Michelles Eltern wenig Erfolg mit dem Versuch haben, den braunen Spuk einzudämmen. Das Paar, das mit seinen beiden Söhnen zurzeit außerhalb Leipzigs untergebracht ist, wandte sich gestern über seine Anwältin Ina Alexandra Tust an die Öffentlichkeit. Die 33-jährige Mutter Michelle, sagte Tust stern.de, distanziere sich deutlich von der rechtsextremistischen Instrumentalisierung des Falles, an der auch ihr jüngerer Bruder beteiligt ist. Der 37-jährige Vater hat laut Tust den Schwager bereits telefonisch zur Rede gestellt und versucht, ihn von weiteren Aktionen abzuhalten. Auch so befinde sich die Familie in einer psychischen Ausnahmesituation: "Alle hoffen immer noch, dass sie aus diesem permanenten Alptraum bald wieder erwachen", sagt Tust.
Die Polizei verfolgt unterdessen offenbar eine weitere Spur, die helfen soll, dass Schicksal Michelles zu rekonstruieren: Aufgrund der bisherigen Ermittlungen gebe es Hinweise, dass sich das Mädchen am Tag ihres Verschwindens noch gegen 16 Uhr auf einem Spielplatz in unmittelbarer Nähe der elterlichen Wohnung aufgehalten haben soll. Bislang hatten die Ermittler die Spur Michelles eine halbe Stunde vorher verloren, als sie sich von einer Schulfreundin verabschiedete. "Der Spielplatz wird jetzt akribisch untersucht", sagte ein Polizeisprecher.
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