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Der Fall Ivan Demjanjuk - NS-Verbrechen vor Gericht


Von Carsten Jensen


Am Montag, den 30. November 2009 beginnt vor dem Münchner Schwurgericht der vielleicht letzte große NS-Prozess in der Bundesrepublik. Eine ARD-Dokumentation begleitet den Prozessauftakt am 30. November 2009, um 21 Uhr. Angeklagt ist der in der Ukraine geborene Ivan Demjanjuk.


Er ist mittlerweile 89 Jahre alt. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, als Wachmann in dem von der SS geführten Vernichtungslager Sobibor Beihilfe zum Mord an 27 900 Menschen geleistet zu haben. Die Angehörigen der Opfer erhoffen sich von dem Prozess Gerechtigkeit und dass an die Öffentlichkeit kommt, was dort 1942 und 43 geschah.

Verurteilung fraglich
Aber ob Demjanjuk tatsächlich verurteilt werden wird ist mehr als fraglich. Einer der profiliertesten Kenner der deutschen NS-Rechtsprechung, der Niederländer Christiaan F. Rüter glaubt nicht daran – es sei denn, das Münchner Gericht urteile anders als es bundesdeutsche Gerichte jahrzehntelang getan haben. Christiaan F. Rüter: „Es ist mir völlig schleierhaft, wie irgend jemand, der die deutsche Rechtssprechung bis jetzt kennt, meinen kann, dass man Demjanjuk bei dieser Beweislage verurteilen kann.“

In anderen Staaten, auch in der DDR, wurde in vergleichbaren Fällen Angeklagte wegen Beihilfe zum Mord bereits verurteilt, wenn nachgewiesen werden konnte, dass sie zum KZ-Personal gehörten. Diese Gerichte sahen ein „arbeitsteiliges Verfahren“ bei dem sich alle schuldig machten, die zur Ermordung und Folter von Häftlingen beitrugen und deshalb konnten sie wegen Beihilfe verurteilt werden. Vor westdeutschen Gerichten genügte das nicht: Hier musste den Angeklagten konkrete, eigenhändige Mordtaten oder die Beteiligung an Exzessen nachgewiesen werden, um sie verurteilen zu können. Wenn dies nicht gelang, wurden die Angeklagten freigesprochen. Konnte dieser Nachweis aber geführt werden, erkannt die Gerichte oftmals auf „Putativnotstand“: die Täter hätten geglaubt, bei Befehlsverweigerung mit drastischen Strafen rechnen zu müssen und deswegen mitgemacht. So kamen im Hagener Sobibor-Prozess Mitte der 60er Jahre deutsche SS-Männer ohne Strafe davon.

In der Bundesrepublik galt jahrzehntelang sogar eine Richtlinie, wonach gegen untere SS-Ränge in den KZs nicht mehr ermittelt werden sollte und sie auch nicht angeklagt werden sollten. Daran hielten sich die westdeutschen Ermittler, Staatsanwälte und Gerichte. Christiaan F. Rüter: „Die westdeutsche Justiz hat natürlich bis zu einem gewissen Grade Täterschutz betrieben. Das ist zwar eine Richtlinie, aber diese wird peinlich eingehalten obwohl die Staatsanwaltschaft und die Richter überhaupt nicht an die Richtlinie gebunden sind. So wird vorgegangen, diese kleinen Leute finden sie nicht bei den verurteilten NS-Täter der letzten 40 Jahre.“

Warum wird Demjanjuk jetzt angeklagt?
Die Beweislage ist dünn. Fast 70 Jahre nach den Morden in Sobibor, das 1943 nach einem Aufstand der Insassen aufgelöst wurde, gibt es keine Zeugen mehr, die sich an Demjanjuk erinnern. Die Anklage stützt sich hauptsächlich auf einen SS-Ausweis, der Sobibor als Aufenthaltsort Demjanjuks nennt und auf Verlegungslisten, die Demjanjuks Abkommandierung in das Vernichtungslager belegen. Diese Unterlagen beweisen aber nur, dass Demjanjuk in Sobibor war, nicht, dass er sich an Exzessen beteiligt oder eigenhändig gemordet hat. Folgt das Gericht der jahrzehntelangen Rechtspraxis in der Bundesrepublik, kann es Demjanjuk aufgrund dieser Beweislage nicht verurteilen. Tut es das doch, dann verstößt es gegen das Gleichheitsprinzip und die deutsche Justiz muss sich fragen lassen, warum all die anderen deutschen NS-Täter nicht verurteilt wurden. Wird Demjanjuk freigesprochen, muss sich die Bundesrepublik einmal mehr kritische Fragen nach der geltenden Rechtspraxis gegenüber NS-Tätern gefallen lassen. Damit steht ein Verlierer des Prozesses bereits fest: die deutsche Justiz. Christiaan F. Rüter: „Was mich stört, ist, dass jetzt auf einmal dieser Kleinste der Kleinen vor Gericht geschleppt wird und das ist Demjanjuk und dass auf einmal alles anders sein soll. Es gilt das Gleichheitsprinzip!“

Der ARD-Film von Frank Gutermuth, Sebastian Kuhn und Wolfgang Schoen folgt den Spuren des Ivan Demjanjuk von seiner ukrainischen Heimat, über das Kriegsgefangenenlager in Chelm bis zum Lager Trawniki, in dem er mutmaßlich zum SS-Helfer ausgebildet wurde. Thomas Blatt, einer der wenigen Sobibor-Überlebenden erzählt, was in dem Vernichtungslager wirklich geschah und welche Aufgaben die ukrainischen Wachmänner, die sogenannten Trawniki, dort erfüllten. Der Film zeigt, wie Ivan Demjanjuk nach dem Krieg in die USA ging, wo er zunächst ein ruhiges, bürgerliches Leben führte, dann aber vom amerikanische Office of Special Investigations (OSI) verdächtigt wurde „Ivan der Schreckliche“ zu sein, ein sadistischer Aufseher, der im Vernichtungslager Treblinka Häftlinge brutal misshandelt und eigenhändig ermordet haben soll. Er wurde nach Israel ausgeliefert und in einem aufsehenerregenden Prozess zum Tod durch den Strang verurteilt. Aber das Oberste Gericht in Israel hob das Urteil 1993 auf nachdem Recherchen ergeben hatten, dass nicht Ivan Demjanjuk, sondern ein anderer „Ivan der Schreckliche“ ist. Demjanjuk kehrte in die USA zurück obwohl aufgrund seines SS-Ausweises bereits bekannt ist, dass er in Sobibor Dienst getan hat. Aber jetzt findet er hier keine Ruhe mehr. 2001 strengt das OSI einen neuen Prozess an, diesmal in den USA. Das Gericht kommt zu dem Schluss, dass Demjanjuk in verschiedenen Lagern Dienst getan hat und nennt: Treblinka, Sobibor, Majdanek und Flossenbürg. Daraufhin wird ihm die US-Staatsbürgerschaft aberkannt. Im März 2009 erlässt die Staatsanwaltschaft München aufgrund von Ermittlungen der „Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ Haftbefehl gegen Ivan Demjanjuk. Sie ist überzeugt, dass der gebürtige Ukrainer in Sobibor von den Deutschen als SS-Wachmann eingesetzt war und an der Vernichtung Tausender Juden beteiligt war. Nun soll er sich dafür vor Gericht verantworten.

Sogar ein Freispruch möglich?
Selbst die Zentrale Stelle gibt zu, dass die Beweise gegen Demjanjuk dürftig sind und dass sogar ein Freispruch möglich sei. Trotzdem hat sie die Ermittlungen vorangetrieben und an die Staatsanwaltschaft weitergegeben – warum? Weil es keinen Anspruch auf Gleichheit im Unrecht gebe und sich Demjanjuk deshalb vor Gericht verantworten müsse, so eine Vertreterin der Zentralen Stelle. Aber die Recherchen der Filmautoren zeigen: das ist nur die halbe Wahrheit. Die Zentrale Stelle, die jahrelang erfolgreich nach NS-Tätern gesucht hat, leidet an Erfolglosigkeit. In den letzten zwanzig Jahren ist ihr kein wirklich großer Fisch mehr ins Netz gegangen. Zu einer Zeit, in der ihr die Fälle ausgehen, weil die meisten NS-Täter bereits tot sind, haben die Ludwigsburger Ermittler den Fall des kleinen Wachmannes Ivan Demjanjuk genutzt, um rechtzeitig zur Feier ihres 50-jährigen Bestehens noch einmal groß in die Schlagzeilen zu kommen. Dass Demjanjuk immer noch der Ruf anhaftet „Ivan der Schreckliche“ zu sein kommt da gerade recht. Christiaan F. Rüter: „Die zentrale Stelle braucht einen Posaunenstoß, um davon abzulenken und sein 50 jähriges Bestehen zu feiern. Dazu ist Demjanjuk ungewöhnlich geeignet, denn anders, als all die kleinen deutschen Demjanjuks und die kleine ukrainische Demjanjuks, die unbehelligt in der Bundesrepublik leben, klebt an diesem Demjanjuk noch immer „Ivan der Schreckliche“, obwohl er es nicht war.“

In München geht es deshalb nicht nur um Schuld oder Unschuld des Angeklagten Ivan Demjanjuk, es geht auch um die Glaubwürdigkeit der deutschen Justiz bei der Verfolgung von NS-Verbrechen. Christiaan F. Rüter: „Wird verurteilt, dann frag ich, wo sind die tausend deutscher KZ-Bewacher? Wird nicht verurteilt, dann wird klar, dass alle Deutschen noch Nazis sind. Dieses Verfahren kannst du politisch nicht gewinnen. Das ist der erste große politische Fehler der Zentralen Stelle in ihrem Bestehen. Die Zentrale Stelle tritt von der Bühne ab mit einem großen politischen Fehler. Unbelieveable!“


Sendetermine:
Montag, 30. November 2009, 21.00 Uhr ARD, Wiederholung: Dienstag, 1. Dezember 2009, 23.30 Uhr SWR, Mittwoch, 9. Dezember 2009, 21.50 Uhr arte


Fotos: © tvschönfilm

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Ivan Demjanjuk 1943, während des Israel-Prozesses und heute