Er sei schon "erschrocken", räumt Innenminister Wolfgang Schäuble in Berlin ein. Der Grund: Eine neue Studie belegt, dass sich unter Deutschlands Jugendlichen der Neonazismus ausbreitet. 5,2 Prozent haben bei einer Umfrage angegeben, Mitglied einer rechten Gruppe oder einer Kameradschaft zu sein. Ein spätes Erwachen der Bundesregierung.
Von Lutz Kinkel, stern.de
Am liebsten hätten Kriminologe Christian Pfeiffer und Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) nur die positiven Nachrichten verkündet. Erstens: Es gibt immer weniger Gewalttaten unter Jugendlichen. Zweitens: Kommt es zu Gewalttaten, erstatten die Opfer immer häufiger Anzeige. "Die Kultur des Hinschauens hat zugenommen", stellte Pfeiffer befriedigt fest. Drittens: Bildung verhindert, dass Jugendliche auf die schiefe Bahn geraten. Das alles belegt die Studie "Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt", die Pfeiffer in Schäubles Auftrag erstellt hat. Aber sie belegt noch mehr - nämlich, dass Zigtausende Schüler vom braunen Dunst vernebelt sind.
Pfeiffers Team befragte in den vergangenen zwei Jahren insgesamt 44.610 Jugendliche im gesamten Bundesgebiet. Ziel war es, das Ausmaß der Jugendgewalt zu erforschen, die "Fieberkurve" der Gesellschaft, wie Pfeiffer sagt. Um etwas über die Motive der Gewalt zu erfahren, wurden die Neuntklässer auch befragt, wie sie zu Ausländern stehen und ob sie Mitglied einer rechten Gruppierung oder einer Kameradschaft seien. Das Ergebnis sei für ihn erschreckend gewesen, räumte Innenminister Schäuble bei der Präsentation der Studie ein. Demnach sind 14,4 Prozent der Befragten sehr ausländerfeindlich. "Eindeutig rechtsextrem" sind 5,2 Prozent. Ebenso viele gaben an, Mitglied einer rechten Gruppierung beziehungsweise einer Kameradschaft zu sein. "Stark antisemitisch" äußerten sich 4,3 Prozent der Jugendlichen.
Rechte Musik als "Bindemittel"
Die detaillierte Auswertung der Daten zeigt, dass der Rechtsradikalismus genau dort grassiert, wo er landläufig vermutet wird. Also eher in Ost- als in Westdeutschland. Eher auf dem platten Land als in der Großstadt. Eher auf den Förder- und Hauptschulen als auf dem Gymnasium. Und, ganz wichtig: vor allem unter männlichen Jugendlichen, längst nicht so intensiv unter Mädchen. Unterm Strich ist der Rechtsextremismus die größte politische Bewegung unter Jugendlichen. Die Jugendorganisationen der Parteien erreichen bei weitem nicht eine ähnlich große Anhängerschaft.
Dies habe auch damit zu tun, dass der Beitritt zu einer Partei ein formeller Akt sei, der Besuch einer rechtsradikalen Gruppe dagegen informell, erläuterte Pfeiffer. Das erleichtere vielen Jugendlichen, die sich nicht dauerhaft festlegen wollten, den Kontakt zur rechten Szene. Als ein "emotionales Bindemittel erster Kategorie" bezeichnete Pfeiffer die rechtsradikale Rockmusik, die auf Schulhöfen kursiert. Schäuble merkte kritisch an, dass es nicht Aufgabe des Staates sei, die Freizeit von Jugendlichen zu organisieren - was die Rechten bekanntermaßen häufig tun. Andererseits sprach er von dem bereits 2007 mit Familienministerin Ursula von der Leyen verabredeten Vorhaben, in Ostdeutschland mehr Sportvereine anzusiedeln, um den Rechtsradikalismus zu dämpfen. Die Ausführung gestalte sich "mühselig", sagte Schäuble. Weitere konkrete politische Maßnahmen nannte der Innenminister nicht.
Rechter Lifestyle im Westen
Annetta Kahane, Vorsitzende der Berliner
Amadeu-Antonio-Stiftung sagte zu
stern.de, die nun vorgelegten Zahlen seien "beängstigend". Vor allem im Westen sei der rechte Lifestyle - dokumentiert durch Musik, einschlägige Klamotten und Freizeitaktivitäten - immer stärker geworden. Wer glaube, solche Bewegungen mit Sportvereinen aufhalten zu können, sei schief gewickelt. "Die können unter Umständen eine weitere Organisationsform der Rechtsextremen sein", sagte Kahane. Sie denke dabei vor allem an Fußballvereine mit rechter Anhängerschaft.
Kahane vermutet, dass sich der Rechtsextremismus eher noch weiter ausbreiten wird. "Die rechtsextreme Demagogie funktioniert in der Krise gut", sagt Kahane. So würden zum Beispiel die "Juden an der Wall Street" für das Finanzdesaster verantwortlich gemacht. Über derlei Unsinn zu schweigen, in der Hoffnung, man könne den Neonazismus tatsächlich totschweigen, hält Kahane nichts. Man müsse schon die Auseinandersetzung suchen. Das brauche aber "einen langen Atem".
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