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Über die Hälfte der Neonazis "gewaltgeneigt"

Sachsen-Anhalt hat einen ungewohnt ausführlichen Monatsbericht über rechtsextreme Gewaltaten, Gewaltbereitschaft und Neonazi-Strukturen vorgelegt. Eine Ausnahmeerscheinung, denn solch einen Report gibt es nicht in jedem Bundesland. Doch rechte Gewalt soll in Sachsen-Anhalt nicht mehr unter den Tisch fallen, beteuert der Innenminister. "Permanenter Verfolgungsdruck" sei für ihn ihn ein Weg zum Ziel. Der Bericht im Wortlaut.

Vorbemerkung der MUT-Redaktion: Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Hövelmann (SPD) ist gewiss eine Ausnahmeerscheinung unter Deutschlands Innenministern. Kaum einer zieht so offensiv gegen Neonazis und NPD zu Felde, wie er, aber auch gegen Polizisten, die sich dem Thema Rechtsextremismus nicht ausreichend stellen. Mit Recht bewerten ihn allerdings Initiativen gegen Neonazismus recht unterschiedlich, weil er nicht immer geradlinig und taktisch klug operiert. Als er beispielsweise jetzt, unmittelbar nach dem Neonazimord an einem Studenten in Magdeburg, Sachsen-Anhalts rückgängige rechte Kriminalstatistik rühmte, klang das ziemlich unglücklich in vielen Ohren. Aber Hövelmann wollte nicht wieder als Buhmann in der Öffentlichkeit erscheinen, die immer gerne auf Sachsen-Anhalt als Hochburg rechtsextremer Krimineller verweist. Um ein genaueres Bild zu vermitteln, veröffentlichte Sachsen-Anhalts Staatskanzlei am Montag einen Hintergrundbericht Hövelmanns, aus dem viel über die rechtsextreme Szene des Bundeslands zu lernen ist. Wir veröffentlichen die lesenswerte Pressemitteilung der Staatskanzlei in Magdeburg an dieser Stelle ausnahmsweise ungekürzt:


"Innenminister Holger Hövelmann erwartet für das laufende Jahr „endlich bundesweit vergleichbare statistische Angaben über die politisch motivierte Kriminalität“. In der heutigen Sitzung der Landesregierung begrüßte Hövelmann, dass auf Initiative Sachsen-Anhalts alle Länder nunmehr einheitlich Propagandadelikte wie zum Beispiel Hakenkreuzschmierereien auch dann als rechtsextrem motiviert einstufen, wenn die Täter noch nicht ermittelt werden konnten. „In einzelnen Ländern wird diese Vereinheitlichung zu einem statistischen Anstieg gegenüber dem Vorjahr führen“, so der Innenminister. „In Sachsen-Anhalt werden wir einen derartigen Effekt durch veränderte Zuordnung nicht erleben, weil wir bereits strikt nach dem Prinzip verfahren, bei Propagandadelikten mit rechtem Inhalt auch eine rechte Motivation anzunehmen.“

Der Innenminister stellte im Kabinett den monatlichen Bericht zum Rechtsextremismus in Sachsen-Anhalt vor, der diesmal die Entwicklung gewaltbereiter, subkulturell geprägter Gruppierungen und Milieus mit rechtsextremistischem Hintergrund in Sachsen-Anhalt zum Gegenstand hatte. Dabei geht es um Personen, die politisch motivierte Gewalt bereits ausgeübt haben oder die sich in Gruppen bewegen, die als gewaltgeneigt gelten und die Gewalt als probates Mittel zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele ansehen. „Etwa die Hälfte dieses Spektrums lebt in Ostdeutschland“, erläuterte Hövelmann. „Von 1.400 Rechtsextremisten in Sachsen-Anhalt sind etwa 800 Personen dieser Szene zuzuordnen.“

Der weit überwiegende Teil dieses Personenkreises entstammt dem subkulturellen Milieu, das sich in der Regel von allgemeinen gesellschaftlichen Standards absetzt. Dazu gehören unter anderem martialisches Auftreten, exzessiver Alkoholkonsum oder aggressive Musik. Ihr Lebensgefühl wird von fremdenfeindlichen, rassistischen, antisemitischen und gewaltbejahenden Einstellungen geprägt. In den Städten Magdeburg und Dessau-Roßlau, den Landkreisen Jerichower Land, Anhalt-Bitterfeld, Mansfeld-Südharz, Harz und Börde sowie im Bereich Bismark tritt dieser beschriebene gewaltbereite Rechtsextremismus erkennbar zutage.

Holger Hövelmann: „Wer ein gefestigtes neonazistisches Weltbild hat, ist für moralische Appelle aus der Zivilgesellschaft kaum noch erreichbar. Die subkulturelle rechtsextreme Szene strahlt aber auch auf junge Menschen aus, deren Wertesystem und politische Auffassungen noch nicht gefestigt sind. Um diese jungen Menschen müssen wir kämpfen. Wir haben mit dem heutigen Bericht auch deutlich gemacht, dass es in Sachsen-Anhalt ein breites Spektrum von Präventionsprojekten gibt. Da manchmal ganz Sachsen-Anhalt von außen einer pauschalen Kritik unterzogen wird, wollen wir das zivilgesellschaftliche Engagement von Menschen, die ihre ganze Kraft in diese Projekte stecken, in diesem Zusammenhang ausdrücklich würdigen.“

Permanenten Verfolgungsdruck gefordert


Präventionsarbeit müsse einhergehen mit einem permanenten Verfolgungsdruck gegenüber rechtsextremistischen Straftätern, unterstrich der Innenminister. Hövelmann: „Welche Dimensionen diese Maßnahmen haben, lässt sich an den polizeilichen Einsätzen zur Bekämpfung der politisch motivierten Kriminalität ablesen, die über das normale polizeiliche Alltagsgeschehen hinausgehen.“ Beispiel Jerichower Land: Dort wurden in diesem Jahr allein bis Mitte April über 2.000 Mannstunden aufgewendet. Es wurden 49 Identitätsfeststellungen durchgeführt und 44 Platzverweise von der Polizei verfügt.

Beispiel Halberstadt: Nach dem Überfall auf die Theatergruppe wurden von der Bereitschaftspolizei im Raum Halberstadt mehr als 14.700 Mannstunden aufgewendet, vor allem abends und nachts. In diesem Zeitraum wurden mehr als 1.200 Identitätsfeststellungen durchgeführt sowie 159 Platzverweise angeordnet. „Dieses Druckpotential lässt sich nicht dauerhaft und nicht flächenhaft aufbieten“, betonte der Minister. „Aber wir werden weiterhin gegen Schwerpunkte rechter Kriminalität hart vorgehen.“

In Magdeburg zeigt sich das Gewaltpotential sowohl in der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner als auch in fremdenfeindlichen Taten. Dem Täterkreis gehören überwiegend Einzeltäter an, jedoch werden auch bekannte Rechtsextremisten immer wieder als Gewalttäter bekannt. Nach wie vor kooperieren im Bereich der Landeshauptstadt Angehörige der „Freien Nationalisten“ (die sich wahlweise auch als „Nationale Sozialisten“ bezeichnen), der NPD und der JN bei der Vorbereitung und Durchführung von Veranstaltungen eng miteinander.
Nach der Kündigung des Szenetreffpunkts „Club S 26“ durch die „Freien Nationalisten/Nationalen Sozialisten Magdeburg“ Anfang 2008 entwickelten sich die Räumlichkeiten in der Sieverstorstraße zum neuen Treffpunkt in Magdeburg. Dort firmierte der „Sport- und Freizeittreff e.V.“, dessen Vorstand sich aus amtsbekannten Szeneangehörigen zusammensetzt. Im Zusammenhang mit einem Polizeieinsatz in diesem Objekt in der Nacht vom 2. zum 3. August 2008 kam es dort zu erheblichen Widerstandshandlungen. Unter anderem entging dort ein Polizeibeamter nur knapp einem vom Dach heruntergeworfenen Feuerlöscher.

Im Jerichower Land haben Aktivitäten von Rechtsextremisten stark zugenommen. Obwohl von einer hierarchisch organisierten Szenestruktur nicht gesprochen werden kann, zeigte sich, dass kurzfristig bis zu 40 Szeneangehörige mobilisiert werden können. Der teilweise äußerst gewaltbereiten rechtsextremistischen Szene werden etwa 60 aktive Personen zugerechnet. Die Rechtsextremisten nutzten in der Vergangenheit unter anderem Treffpunkte in Brettin, Genthin und Grabow. Die im Landkreis Jerichower Land ansässige Hooligangruppierung „Blue White Street Elite“ wurde im April 2008 durch das Innenministerium verboten. Das Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt hat mit Beschluss vom 24. Juli 2008 allerdings die Vollziehung des ausgesprochenen Verbots bis zu einer Entscheidung im Hauptsachenverfahren vorläufig ausgesetzt.
Bei den etwa 25 Mitgliedern, die zum harten Kern gehören, handelt es sich um männliche Personen im Alter von 18 bis 25 Jahren. In deren Umfeld kam es wiederholt zu Schlägereien unter Beteiligung der Vereinsmitglieder, wobei durch diese sehr aggressiv und brutal vorgegangen wird. Bei Heim- und Auswärtsspielen des 1. FC Magdeburg treten die Vereinsmitglieder äußerst gewaltbereit in Erscheinung und es kommt regelmäßig zu Auseinandersetzungen mit gegnerischen Fans. Die Palette der registrierten Straftaten reicht von Sachbeschädigungen über gefährliche Körperverletzungen bis hin zu Widerstandshandlungen gegen Vollstreckungsbeamte oder auch schwerem Landfriedensbruch.

Angehörige der rechtsextremistischen Szene im Raum Bismark (Landkreis Stendal), der hier etwa 20 Personen zugerechnet werden, handeln zwar gemeinschaftlich, treten aber nicht in einer strukturierten Gruppierung auf. Ein Teil dieses Personenkreises wird als gewalttätig eingeschätzt, weitere Gewalttäter aus der Altmarkregion agieren als Einzeltäter.

In den Regionen Anhalt-Bitterfeld und Dessau-Roßlau existieren weitgehend strukturlose Personenzusammenschlüsse, die gemeinschaftlich handelnd rechtsextremistisch motivierte Straftaten begehen. Hier wurden zahlreiche Einzeltäter als Wiederholungstäter bekannt. In der Region Köthen agierte 2007 eine Personengruppe, die gemeinschaftlich handelnd rechtsextremistische Gewalttaten beging - eine Personengruppe, die bereits aus dem allgemeinkriminellen Bereich bekannt war.

Die rechtsextremistische Szene im Harz (mit den Städten Halberstadt, Wernigerode, Quedlinburg und Blankenburg) ist bis auf die JN-Stützpunkte in Wernigerode und Blankenburg im Wesentlichen unstrukturiert. Eine hierarchisch strukturierte, neonazistisch ausgerichtete Kameradschaftsszene existiert nicht mehr. In den vergangenen Jahren kam es in dieser Region immer wieder zu erheblichen Friktionen zwischen Rechtsextremisten und deren politischem Gegner. Die zum Teil schweren Körperverletzungen, Sachbeschädigungen und Landfriedensbrüche waren durch eine besondere Brutalität gekennzeichnet.

Im Landkreis Mansfeld-Südharz sorgen insbesondere die von Enrico Marx auf seinem Privatgrundstück durchgeführten Treffen und Musikveranstaltungen immer wieder für Aufsehen. Hinsichtlich der Auswertung von Gewaltschwerpunkten nimmt die Region jedoch nur einen hinteren Platz ein. Dem gegenüber stehen aber schwere Gewalttaten, wie beispielsweise der Brandanschlag am 6. Januar 2007 in Sangerhausen auf ein Asylbewerberheim, an dem auch Personen des Umfeldes von Marx beteiligt waren, oder der Vorfall am 20. März 2008 in Sangerhausen, als eine vietnamesische Studentin vor einen fahrenden Zug gestoßen wurde.

Die rechtsextremistische Szene im Landkreis Börde ist im Wesentlichen unstrukturiert. Eine hierarchische, homogene neonazistisch ausgerichtete Kameradschaftsstruktur existiert nicht. Die Szene in dem genannten Bereich wird als subkulturell geprägt und gewaltbereit eingeschätzt. So wurden in der zurückliegenden Zeit beispielsweise in Oschersleben immer wieder rechtsextremistisch motivierte Straf- und Gewalttaten bekannt, bei denen das Täterklientel der jugendlichen Subkultur zuzurechnen ist.

Praxisbeispiel für Präventionsarbeit

Im Bereich der Polizeidirektion Nord werden seit längerer Zeit die Projekte „Buntes Licht auf braune Schatten“ und „Schritte gegen Tritte“ in Kooperation mit anderen Behörden und Institutionen durchgeführt.

Das Projekt „Buntes Licht auf braune Schatten“ richtet sich gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Dabei werden Schüler von Sekundar- und Berufsschulen sowie Gymnasien, Pädagogen und Erzieher sowie Eltern und auch Großeltern einbezogen. Dabei soll in dem jeweils eine Woche dauernden Modul eine Auseinandersetzung mit den Ursachen für rechtsextremistisch motivierte Gewalt ermöglicht werden. Neben der Erläuterung strafrechtlicher Aspekte sollen auch Geschichtskenntnisse zum deutschen Nationalsozialismus intensiviert werden.

Die Veranstaltungen zum Projekt „Schritte gegen Tritte“ sind jeweils für einen Tag angelegt und sollen neben Schülern ab der 7. Klasse ebenfalls Lehrpersonal, Erzieher und Familienangehörige mit einbeziehen. Inhaltlich wird hierbei die kritische Reflektion eigener Gewalterfahrungen und deren Ursachen thematisiert.

Das mit Bundes- und Landesmitteln geförderte Projekt „Bühne frei für Respekt“ soll Grundbedingungen pädagogischer Arbeit mit gefährdeten Jugendlichen beispielsweise in Jugendhaftanstalten und Jugend(hilfe)-einrichtungen oder Schulen aufzeigen. Den Jugendlichen soll so die Möglichkeit gegeben werden, Erfahrungen bei Demokratieverhalten und Mitbestimmung zu sammeln. Die Jugendlichen sollen zum einen lernen, ihre eigenen Interessen wahrzunehmen, sie zu artikulieren und dafür auf demokratischem Wege mehrheitsfähige Lösungen zu finden.

Der Verein Miteinander e.V. unterstützt in ländlichen und kleinstädtischen Regionen soziokulturelle Jugendinitiativen, die sich gegen Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus wenden und in ihrer kulturellen und sozialen Praxis für eine plurale, demokratische Jugendkultur eintreten. Dies beinhaltet die Unterstützung und Begleitung der Eigeninitiative von Jugendlichen bei der Organisation von Konzerten, Jugendwettbewerben und lokalen Jugendkulturevents, deren Charakter geeignet ist, die Verankerung und soziokulturelle Attraktivität demokratischer Jugendkulturen im lokalen und regionalen Kontext zu stärken und somit zur Zurückdrängung der Repräsentanz rechtsextremer Inhalte in der Öffentlichkeit beitragen. So unterstützen die Mitarbeiter des Vereins Miteinander e.V. seit Jahren die Arbeit der Salzwelder Jugendinitiative „Aktion Musik“ durch vielfältige organisatorische Hilfen und inhaltliche Impulse zur Ausgestaltung von Aktionen, Workshops und Konzerten. Diese Arbeit zeigt seit mehr als vier Jahren spürbare Erfolge.

Das Projekt „Verantwortung übernehmen – Abschied von Hass und Gewalt“ in der Jugendanstalt Raßnitz zielt auf eine (Re-)Integrationsarbeit mit jungen Menschen, die zum Teil schwere Gewaltstraftaten begangen haben und sich an extremistischen und menschenfeindlichen Ideologien orientieren. Die Arbeit mit den Jugendlichen führt gezielt bildungspolitische Ansätze mit sozialpädagogischer Arbeit und Methoden des Verhaltenstrainings zusammen und unterstützt durch ein Betreuungsmanagement nach der Entlassung die Integration."

Quelle: http://www.asp.sachsen-anhalt.de/presseapp/data/stk/2008/443_2008_123475...

www.mut-gegen-rechte-gewalt.de / Foto: Postaufkleber des Kultus- und Justizministeriums Sachsen-Anhalts, entworfen von Schülern aus Halberstadt / Foto: hkulick

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Briefaufkleber aus Sachsen-Anhalt: Achtung Gefahrenstelle