"Mach mit im Kampf gegen Rassismus!". Mit diesem Appell wandte sich Nationalelf-Kapitän Michael Ballack vor dem 3:2 der deutschen gegen die türkische Elf an alle Fußballfans. Doch in einigen Städten vergebens. In Hannover wurde das Klima durch hörbaren Rassismus beim Public Viewing vergiftet. In Dresden wurden türkische Fahnen verbrannt und gezielt drei Dönerbuden angegriffen. Zwei Türken wurden verletzt. In Hamm verletzten wiederum türkischsprechende Jugendliche einen 46-jährigen. Die Polizei zeigte sich teilweise desinteressiert und überfordert. Vor dem Spiel hatten sich Neonazis bereits im Internet Bürgerkriegs-Szenarien ausgemalt.
Von Carsten Hübner und Holger Kulick
Wie getrübt das Klima an einigen Orten war, schildert der Sportwissenschaftler Gunter a. Pilz aus Hannover, der auch den DFB berät:
"...zu meinen Beobachtungen beim Public Viewing bei der Gilde Parkbühne, wo ca. 9000 überwiegend (99 %) deutsche Fans das Spiel auf der Großbildleinwand beobachteten. Machte sich der Sprecher und sogenannte Animateur zu Beginn darüber etwas lustig, dass so wenige türkische Fans den Weg zur Parkbühne gefunden hätten (diese verfolgten das Spiel auf einer extra für dieses Spiel am Steintor aufgebauten zweiten Großbildleinwand) wurde es richtig ärgerlich beim Abspielen der Nationalhymnen:
Das Abspielen der türkischen Nationalhymne wurde von einem lauten Pfeifkonzert eines Teils der anwesenden Fans und dem Zeigen des Stinkefingers begleitet und auf der sogenannten VIP-Tribüne sahen sich nur ein paar wenige VIPs genötigt, sich während der türkischen Nationalhymne zu erheben, während man geschlossen aufstand als die deutsche Nationalhymne ertönte und auch laut mitsang (am Anfang war auch noch gut das Deutschland, über alles über alles in der Welt zu vernehmen).
Es war und ist für mich nach wie vor gelinde gesagt unverständlich, dass sich der Sprecher und Animateur der Parkbühne nicht genötigt sah, wenigstens nachträglich deutlich zu sagen, dass man niemand dieses Verhalten absolut nicht toleriere! Und sich bei den wenigen türkischen Mitbürgern nicht für dieses Verhalten eines leider nicht kleinen Teils der Fans entschuldigte.
Von der Polizei wurde 20 Rechtsradikale in Gewahrsam genommen, die beim Fan-Fest an der Gilde-Parkbühne wiederholt rassistische Parolen skandierten. (Siehe dpa-Foto):
Hinzu kam, dass schon eine Stunde vor der Übertragung viele der meist auch jugendlichen Fans hochgradig alkoholisiert waren, bereits vor Spielbeginn die ersten "Alkoholleichen" abtransportiert werden mussten.
Wie anders doch das Bild am Steintor, wo 6000 meist türkische Fans ohne Alkohol friedlich und leidenschaftlich feierten und nach dem Spiel mit Deutschen Fans feierten. Wie sagte doch ein türkischer Fan: Nach dem für ihn enttäuschen Spielausgang: 'Ich muss jetzt erst eine Nacht darüber schlafen und am Sonntag bin ich für Deutschland'.
Das Problem der Integration sind nicht die Türken, das sind wir, zumindest ein Teil unserer Mehrheitsgesellschaft!
Was ich von Seiten der türkischen Migranten und Menschen mit Migrationshintergrund dieser Tage gesehen habe, das ist gelebte Integration (z.B. kam mir eine türkische Frau mit Kopftuch am Steuer ihres Autos sitzend entgegen und rechts war die türkische, links die deutsch Flagge!)..." Anzeigen gegen Neonazis in Berlin
Auf der Berliner Fanmeile wurden während des Halbfinales mehrere Anzeigen gegen Neonazis erhoben, die sich radikal rassistisch äußerten. So meldeten gleich mehrere Fanmeilenbesucher der Bundespolizei eine Gruppe von rund 20 Neonazis, die im Getümmel Schlachtgesänge skandierten, wie: "Schlagt den Türken die Schädeldecke ein, Schädeldecke ein..." oder "Galatasaray - Wir hassen die Türkei". Von einigen der Gröhlern wurden nach Abpfiff immerhin die Personalien festgestellt, berichteten Fanmeilenbesucher der MUT-Redaktion.
Gezielte Randale in Dresden
Nicht nur verbal wurde in Dresden Gewalt ausgeübt. Randale und fremdenfeindliche Ausschreitungen überschatteten dort die gemeinschaftlichen Jubelfeiern nach dem 3:2. Offenbar gezielt griff eine Gruppe Jugendlicher drei Döner-Buden an und verletzte zwei Türken. Dazu meldete die Polizei unter der Überschrift: "Beschämende Nachspielzeit":
"Nach dem ersten Halbfinale der EURO 2008 hat in Dresden eine Gruppe von 20 bis 30 Unbekannten drei Dönergeschäfte angegriffen.Sie attackierten in einem Geschäft am Albertplatz die beiden türkischen Betreiber. Diese erlitten Verletzungen und mussten medizinisch versorgt werden. Zudem demolierten die dunkel gekleideten Personen die Ladeneinrichtung, warfen Flaschen und zündeten eine türkische Fahne an. Dann entfernten sich die Angreifer unerkannt über die Alaunstraße. Dort beschädigten sie Scheiben von zwei weiteren Dönerimbissen, warfen erneut mit Flaschen und zündeten Böller."
Die Polizei setzte nach eigenen Angaben rund 200 Beamte bei den Ausschreitungen ein. Elf Personen seien in Gewahrsam genommen worden. Der Polizei war ein Teil der Gruppe aus dem Fußballmilieu als gewaltbereit bekannt. DGB und Opferberatung kritisierten indessen, dass die Polizei eine halbe Stunde gebraucht habe, um überhaupt einzugreifen.
Ein weiteres Problem, so berichtet
welt.de, sei das nicht-einschreitende Gaffertum gewesen: "Nach der öffentlichen Übertragung des Halbfinal-Spiels Deutschland-Türkei (3:2) zogen nicht nur die Randalierer zu den Dönerläden. Außerdem hängten sich zahlreiche Schaulustige an die Schlägertruppe und begafften deren brutales Tun."
Desinteressierte Polizei?
Auf
indymedia wird geschildert:
"Mehrere dutzend Nazis griffen mindestens drei türkische Imbisse an und verletzten dabei Menschen. Während in den Straßen türkische Fahnen verbrannt wurden und viele der so genannten alternativen Menschen in Sprechchören immer wieder "Wir hassen die Türkei!" skandierten, griff die anwesende Polizei nur sporadisch in die Szenerie ein. Auch zwei Stunden nach den Übergriffen fühlten sich die Einsatzkräfte nicht in der Lage, ein genaues Bild der Lage wiederzugeben und Anzeigen der Betroffenen aufzunehmen. Erstaunlicherweise wusste der Pressesprecher der Polizei schon am gestrigen Abend, dass die mutmaßliche Tätergruppe (Randalierer sic!) als gewaltbereit bekannt gewesen ist, während seine Kolleginnen und Kollegen auch auf Hinweise dass gerade vor ihren Augen türkische Fahnen verbrannt werden nur Nicken konnten und wollten."
Innenminister verspricht BesserungAm Tag danach verurteilte Sachsens SPD-Chef Thomas Jurk die Attacken als fremdenfeindlichen Akt. Er besuchte am Donnerstag die Opfer, um sich selbst ein Bild zu machen und sich "im Namen aller anständigen Sachsen zu entschuldigen".
Sachsens Innenminister Albrecht Buttolo (CDU) kündigte an, "gegen derartige Krawallmacher gilt auch für den kommenden Sonntag eine Null-Toleranz-Strategie der sächsischen Polizei". Der Minister ordnete an, dass die Polizei verstärkt durch ein Spezialeinsatzkommando zum EM-Finale "an allen Brennpunkten mit hoher Präsenz" bereit stehen soll. Man wird sehen.
Vielerorts blieb die deutsch-türkische Fußballnacht allerdings friedlich (siehe Foto aus Berlin). Doch Gewalt wie in Dresden gab es auch in einigen anderen Orten. Aus dem Bezirk Suhl wurde ebenfalls ein Überfall dreier junger Männer auf einen DönerImbiss gemeldet (siehe Leserreaktionen). In Chemnitz gingen gewaltbereite Fußballfans nach dem Spiel-Abpfiff auf die Polizei los. Sechs Beamte wurden verletzt und mehrere Polizeiautos beschädigt. Auch in Leipzig zogen rund 30 Schläger durch die Innenstadt. Es kam zu Auseinandersetzungen von Leipzigern unterschiedlicher Nationalitäten. Auch in Hannover wurden Randalierer festgenommen. In Hamm wiederum verletzten fünf bis sieben Jugendliche mit Migrationshintergrund einen 46-jährigen durch Tritte schwer. Die Verdächtigen ließen von ihrem Opfer ab und flüchteten, als sie Zeugen bemerkten. Die Jugendlichen sollen den Angaben zufolge Türkisch gesprochen haben.
Schon vor dem Spiel Aggressionen
Schon vor dem EM-Halbfinale zwischen Deutschland und der Türkei häuften sich Meldungen über rassistisch motivierte Gewalt gegen Türken. In Berlin-Kreuzberg wurden Autos beschädigt, die eine türkische Fahne trugen. In Hannover waren in den Tagen zuvor Flugblätter mit der verbotenen ersten Strophe des Deutschlandlieds an Fußballfans verteilt worden, in denen es hieß:
„Wehen deine Fahnen auch noch nach der WM? Bist du wirklich nur ein Saison-Deutscher? Unsere Fahnen müssen immer und überall wehen.“ Die Zettel verwiesen auf die Internetseite der rechtsextremen "Nationalen Sozialisten" unter Federführung des Hamburger Neonaziführers Christian Worch.
In einschlägigen Foren im Internet Internet häuften sich Gewaltaufrufe aus der rechtsextremen Szene. „Das gibt einen richtig heißen Fight am Mittwoch. Ich freue mich darauf, wie so mancher hier auch“, hieß es etwa im Kommentarbereich des neonazistischen Info-Portals ‚Altermedia’. An selber Stelle meinte ein gewisser ‚Widerling’: „Ideal wäre, wenn es viele Tote gäbe“. In einem anderen Forum hoffte ein User unter dem Pseudonym ‚Theodor von der Pfordten’ sogar „auf einen Bürgerkrieg, damit die Deutschen endlich merken, welche Mentalität dieses Gesocks mit sich bringt“. Selbst führende Neonazikader wie Christian Worch klinkten sich in die Debatte ein und schwadronierten über den „Ruf der Türken als Kämpfer“.
Erste organisierte Störaktionen der rechten Szene hatte es schon beim Auftaktspiel der deutschen Mannschaft gegen Polen in Klagenfurt gegeben. Nach Rufen wie „Alle Polen müssen einen gelben Stern tragen“, waren rund 140 Personen verhaftet worden. Zu den bisher heftigsten Ausschreitungen war es jedoch am Donnerstag nach dem Viertelfinalsieg Deutschlands über Portugal gekommen. So attackierten in Frankfurt an der Oder Neonazis aus einer Gruppe von 250 teils vermummter Personen heraus Polizeibeamte und einen Linienbus mit Flaschen und Steinen. Zur gleichen Zeit rotteten sich in Bautzen 75 Rechtsextreme in der Innenstadt zusammen und riefen „Sieg Heil“ und „Deutschland über alles“. Auch am Bremer Hauptbahnhof suchte eine größere Gruppe Neonazis die Konfrontation mit jungen Türken, musste sich aber nach kurzer Zeit in einer Kneipe in Sicherheit bringen und auf Polizeischutz warten. Bundesweit wurden allein an diesem Abend Dutzende gewalttätige Neonazis festgenommen.
Fußball als erprobtes Vehikel für Rassismus
Bereits während der Fußballweltmeisterschaft vor zwei Jahren hatten NPD und rechtsextreme „Fußballfans“ versucht, die allgemeine Jubelstimmung für ihre Zwecke zu missbrauchen. Unter der Überschrift: „Weiß. Nicht nur eine Trikot-Farbe! Für eine echte NATIONAL-Mannschaft!” verteilte die NPD damals so genannte WM-Planer. Mit dem Motto wollte sie nach Ansicht der Staatsanwaltschaft Berlin den schwarzen Nationalspieler Patrick Owomoyela diskriminieren, dessen Rückennummer 28 auf dem Titel zu sehen war. NPD-Chef Udo Voigt wird sich deshalb demnächst wegen Volksverhetzung vor Gericht verantworten müssen. Einen entsprechenden Planer gab es auch dieses Jahr wieder. Er zeigt als Titelbild die westdeutsche Nationalmannschaft von 1954. Das Motto lautet: „Das waren noch Zeiten…“. Nach Angaben der NPD soll er vor der EM in großer Stückzahl verteilt worden sein.
Die Nutzer des NPD-Internetforums ‚Nationales Forum Deutschland’ wollten sich jedoch offensichtlich nicht auf reine Propagandaaktionen beschränken. So prophezeite ein User unter dem Namen ‚DennisS’, dass es „richtig knallen“ werde: „Ich werde Mittwoch jedenfalls passende Ausrüstung mitnehmen, um auf alles Mögliche vorbereitet zu sein. Das wird ein Spaß…vor allem nach dem Spiel“. Und ein ‚Thorolf’ versuchte die Stimmung mit der Behauptung anzuheizen, „dass die türkischen Fans bei einer Niederlage ihrer Elf etliche Großstädte in Schutt und Asche legen.“
Ballack: "Mach mit beim Kampf gegen Rassismus"
Um rechtsextremen Provokateuren schon im Vorfeld den Resonanzboden unter anderen Fangruppen zu entziehen, stellte das EM-Vorbereitungskomitee die beiden Halbfinal-Partien in Basel und Wien unter das Motto "Vereint gegen Rassismus". Die Mannschaftskapitäne verlasen dazu vor den Spielen jeweils eine Erklärung.
Darin wurde zu einem friedlichen Miteinander der Kulturen aufgerufen: "Mach mit beim Kampf gegen Rassismus" schloß Michael Ballack sein Statement. Darüber hinaus bereitete sich die Polizei im gesamten Bundesgebiet auf einen Großeinsatz vor, insbesondere in Berlin, wo am Mittwochabend mehr als 500.000 Besucher die Fanmeile besuchten - Deutsche, Türken und Deutschtürken.
Aber auch in Berlin-Kreuzberg wurden mehrere Public Viewings organisiert. So lud der Berliner Fußballverein Türkiyemspor deutschen und türkische Fans zum gemeinsamen Fußballgucken ein. Zur Übertragung des Halbfinales im Clubhaus am Kottbusser Tor kamen Gäste aus Sport und Politik, darunter Bundesbauminister Wolfgang Tiefensee. "Deutschland - Türkei ist für uns alle eine Traumkonstellation. Wie das Spiel auch aussging: Kreuzberg und ganz Berlin jubeln", versprach Vereinspräsident Celal Bingöl und forderte auf: "Jubeln Sie mit!". So war es dann auch. Aber eben leider nicht überall.
"Dennoch...", so reflektiert in seinem anfangs zitierten Beobachtungsbericht aus Hannover der Sportwissenschaftler Gunter A. Pilz: "...dies mag als Hoffnungsschimmer gelten - Fakt ist,dass insgesamt die vielen Feiern auf den Fanmeilen und Public Viewingbereichen sehr friedlich verlaufen sind. Die Frage allerdings muss gestellt werden: Wäre dies auch der Fall gewesen, wenn die Türkei statt Deutschland gewonnen hätte? Es ist noch viel tun, noch viel Integrationsarbeit zu leisten!..."
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"Ballack, döner sie weg!" - Wie deutsche Medien antitürkische Stimmung machen - und Wiedergutmachung versuchen."Unter falscher Flagge" - ein polizeilicher Fahnenstreit in Berlin. www.mut-gegen-rechte-gewalt.de / Fotos: Nihal Yildiran, Holger Kulick und indymedia.de