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Entspannung? Von wegen.

Sachsens und Sachsen-Anhalts Opferberatungsstellen verzeichnen erneut einen erheblichen Zuwachs bei rechtsextrem motivierten Übergriffen. Zwei neue Überfälle machen auf erschreckende Weise deutlich, wie derzeit Gewalt von Rechtsextremen eskaliert - und keineswegs immer den Weg in die Polizeistatistik findet.

Erschreckendes aus der Leipziger Volkszeitung vom 25.2.: Im sächsischen Colditz randalierten am Wochenende etwa 100 teilweise Vermummte, darunter laut Polizei auch Mitglieder der verbotenen Neonazi-Kameradschaft "Sturm 34" aus Mittweida, am Samstagabend auf dem Colditzer Sophienplatz. Wörtlich heißt es: "Fensterscheiben gingen zu Bruch, Nebelbomben wurden gezündet. Mit ihrer  offenbar minutiös geplanten, blitzschnell ausgeführten Aktion zielte der  Pulk auf ein Elektrogeschäft, dessen Inhaber auch den benachbarten Saal des einstigen "Wettiner Hofes" betreiben, in dem bereits drei Punkkonzerte stattfanden.

"Wollen Sie nun auch noch unsere Namen in die Zeitung setzen, damit wir endgültig zur Zielscheibe werden?!" Die beiden betroffenen
Geschäftsmänner stehen unter Schock. Nach ihren Angaben ist der Vorfall nicht der erste dieser Art in Colditz. Sie fühlen sich im Stich gelassen -- von Polizei und Justiz, vom Staat. Sie alle guckten ihrer Meinung nach viel zu lange weg. "Ja, wir haben Angst, alle haben Angst. Das sind Zustände wie in der Weimarer Republik. Da wird der Hitlergruß in aller Öffentlichkeit gezeigt, da schlägt man junge Leute krankenhausreif, da ist Telefonterror an der Tagesordnung", so einer der beiden Colditzer, dessen Sohn selbst in einer Punkband spielt.

Ein 16-Jähriger, der aus Furcht vor Übergriffen ebenfalls anonym bleiben möchte, berichtet über die Geschehnisse an jenem 19. Mai 2007. "Damals spielten im Saal junge Bands aus Rochlitz, Colditz und Grimma. Plötzlich griffen uns 50 bis 60 Glatzen an. Steine flogen und wir verrammelten die Tür. Die Polizei? Ich glaube die ist auf dem rechten Auge blind."

Seitdem habe es noch zwei weitere Konzerte gegeben und eine Antifa-Spontandemo durch Colditz, sagt der Junge und fügt hinzu: "Im
Februar wurden drei Konzertbesucher auf dem Heimweg in der Nähe des sogenannten Führerhauptquartiers verprügelt. Einer von ihnen musste in die Klinik." An diesem Wochenende war kein Konzert und doch hätten die Jugendlichen beobachtet, wie die Angreifer das Geschäft verwüsteten, mit Sieg-Heil-Rufen im Tunnel verschwanden und auch noch die Scheibe des benachbarten Dönerladens "Side" einschmissen. 

Unpräzise Polizeistatistik

Dieser Fall ging in die Polizeistatistik ein - weil er in die Zeitung kam. Wie unpräzise die Polizeistatistik sonst ist, hat in diesen Tagen ein Fall aus dem westsächsischen Geringswalde verdeutlicht: Nach einem Überfall von Neonazis auf 5 junge Männer hatte die zuständige Direktion den Vorfall in der Öffentlichkeit offenkundig verschleiern wollen. Im offiziellen Bericht war lediglich von einem Fall der „Sachbeschädigung“ die Rede. Und das, obwohl die fünf jungen Männer in Todesangst mit ihrem Wagen über mehrere Feldwege und Straßen hetzten, anschließend von Rechten mit Baseballschlägern attackiert wurden. (vgl. Sächsische Zeitung vom 23.2.2008). Um so mehr an Gewicht gewinnen die Statistiken der sächsischen Opferberatungsstellen, an die sich Überfallopfer direkt wenden können.

Erhebliche Steigerungsrate in Sachsen

Die beiden Beratungsprojekte für Betroffene rechtsextremer Gewalt in Sachsen (RAA Sachsen e.V. und AMAL - Hilfe für Betroffene rechter Gewalt e.V.) erhielten im Jahr 2007 Kenntnis von 306 Übergriffen (2006: 208 Übergriffe) mit rechtsextremer bzw. fremdenfeindlicher Tatmotivation. Wöchentlich ereigneten sich in Sachsen somit fünf bis sechs rechtsextrem motivierte Übergriffe. Darüber hinaus muss von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden.

Die meisten Übergriffe wurden aus der Stadt Leipzig (74) und dem Landkreis Mittweida (56) bekannt. „Bereits im Vorjahr zeichnete sich ab, dass der Landkreis Mittweida Schwerpunkt der Beratungsarbeit werden wird. Die im April 2007 verbotene Neonazi-Kameradschaft „Sturm 34“ ist dort noch immer aktiv“, so Ingo Stange zum zuständigen AMAL-Büro in Wurzen. Durch die verstärkte Zusammenarbeit mit regionalen Kooperationspartnern und die erhöhte Bekanntheit von AMAL im Landkreis konnten zahlreiche übergriffe dokumentiert und mehr Betroffene beraten werden.

Von den 306 übergriffen waren in Sachsen 402 Personen direkt betroffen. In 205 FÄllen wurde eine Anzeige erstattet. In 114 FÄllen richteten sich die bergriffe gegen nicht-rechte Jugendliche. Die zweitgrößte Betroffenengruppe bildeten mit 79 Vorfällen Menschen mit Migrationshintergrund, dicht gefolgt 63 Vorfällen, bei denen Menschen auf Grund ihres politischen Engagements angegriffen wurden. Erfahrungsgemäß erhöht sich die Anzahl der Übergriffe noch, da den Beratungsstellen in den kommenden Monaten weitere Angriffe aus dem Jahr 2007 gemeldet werden. Für das Jahr 2006 erhöhte sich die Anzahl der Übergriffe um 34 auf 242.

Die Beratungsprojekte zählen Vorfälle von Körperverletzungen, Nötigungen, Bedrohungen, Brandstiftungen sowie Sachbeschädigungen, mit denen zielgerichtet Personen getroffen werden sollen. Vorfälle in den Bereichen fremdenfeindliche Beleidigung, Verwendung von verfassungswidrigen Symbolen, fremdenfeindliche Diskriminierung und Mobbing werden dabei nicht berücksichtigt. Im Rahmen ihrer Tätigkeit konnten die Mitarbeiterund Mitarbeiterinnen der Beratungsstellen insgesamt 390 Personen bei der Bewältigung von Tatfolgen unterstützen (direkt Betroffene: 306, indirekt Betroffene: 84).

Diese Zahlen bringen zum Ausdruck, dass Sachsen noch immer als Schwerpunkt für rechtsextreme und rassistische Gewalt gelten muss. Die Protagonisten der extremen Rechten sind im Freistaat flächendeckend aktiv und können auf gewachsene Strukturen zurück greifen. Hinzu kommen zahlreiche unorganisierte Akteure, die ihre rassistischen und rechtsextremen Ressentiments gewaltättig ausleben, wie das Beispiel Mügeln zeigt. Die bisher unternommenen Anstrengungen zur Zurückdrängung dieser Phänomene haben nach Ansicht von AMAL nicht ausgereicht, um eine Verbesserung für potenzielle Betroffenengruppen zu bewirken. Um hier nachhaltige Verbesserungen zu erzielen, muss sich vor allem im Bereich der Alltagskultur mehr tun. Die (wichtige) Arbeit von zivilgesellschaftlichen und antifaschistischen Initiativen reicht dabei nicht aus. Sie sind außerdem oft personell überlastet, kurzfristig und zu gering finanziert sowie mit bürokratischen Hürden konfrontiert.

Letzte Statistik mit AMAL

Die vorliegende Statistik ist die letzte, die von den Beratungsprojekten des RAA Sachsen e.V. und des AMAL – Hilfe für Betroffene rechter Gewalt e.V. gemeinsam erstellt wurde. Die von der Sächsischen Staatsregierung forcierte Umstrukturierung führte zur Abwicklung von AMAL. Dieser Einschnitt schwächt die Beratung für Betroffene rechter Gewalt in Sachsen strukturell, inhaltlich und finanziell. „Niemand, der sich ernsthaft für Opferinteressen einsetzt, kann für diese Entwicklung Verständnis aufbringen. Gerade vor dem Hintergrund der vorgelegten Statistik ist die Abwicklung anerkannter und effizient arbeitender Beratungsstrukturen Wasser auf die Mühlen der extremen Rechten“, so AMAL-Projektkoordinator Hagen Kreisel.

Bundesweit 10.000 gewaltbereite Rechtsextreme

Laut Focus von diesem Wochenende zählt der Verfassungsschutz bundesweit rund 10.000 gewaltbereite Rechtsextreme (2006: 10 400). Dies wäre ein leichter Rückgang um rund 400. Auch die Zahl der Rechtsextremisten insgesamt ging nach diesen Informationen zurück, von 38600 auf 33000. Grund dafür sei vor allem, dass die Mitgliederzahlen der Republikaner (2006: 6000) nicht mehr ausgewiesen würden. Nach Einschätzung der Behörde gebe es bei ihnen "keine hinreichend gewichtigen Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung" mehr. Dagegen stieg dem Bericht zufolge die Zahl der gewaltbereiten Linksextremisten auf 6300 (2006: 6000). Insgesamt registrierten die Staatsschützer 30800 Linksextremisten, etwa 100 mehr als im Jahr zuvor.


In Sachsen-Anhalt Anstieg rechtsextremer Delikte, aber weniger Gewalt?

Auch in Sachsen-Anhalt hat die Zahl der rechtsextremen Straftaten im vergangenen Jahr weiter zugenommen. Die Ermittler registrierten in der offiziellen Statistik 1350 solcher Delikte, 110 mehr als im Jahr zuvor. Das geht aus der Jahresstatistik zur politisch motivierten Kriminalität hervor, die Innenminister Holger Hövelmann (SPD) am 25.2. in Magdeburg vorstellte. Rechtsradikale verübten demnach allerdings weniger politisch motivierte Gewalttaten: Deren Zahl sank 2007 im Vergleich zum Vorjahr um 23 auf 99. Linksextremisten begingen der Statistik zufolge im Vorjahr weniger Straftaten, so dass das Gesamtniveau politisch motivierter Kriminalität um 10,6 Prozent auf 1653 Fälle sank. Um die Statistik der politisch motivierten Kriminalität hatte es vor drei Monaten erheblichen Wirbel gegeben, weil die Polizei auf Betreiben des Landeskriminalamtes (LKA) ihre Zählweise geändert hatte. Daraufhin war die offizielle Zahl rechtsextremer Straftaten für das erste Halbjahr 2007 stark gesunken. Inzwischen wurden laut Innenministerium etwa 300 Straftaten nochmals überprüft, die zunächst als Delikte mit unklarem Hintergrund eingeordnet worden waren. LKA-Chef Frank Hüttemann war nach Bekanntwerden der Änderungen im November zurückgetreten.

Opferberatung widerspricht Innenministerium

Die  Mobile Opferberatung Sachsen-Anhalts sieht allerdings eine hohe Differenz und erklärt:
"Das Innenministerium in Sachsen-Anhalt hat heute eine Anzahl von 99 politisch rechts motivierten Gewalttaten für das Jahr 2007 bekannt gegeben. Davon seien 28 fremdenfeindlich und zwei antisemitisch motiviert. Die Mobile Opferberatung dagegen hat für das Jahr 2007 insgesamt 151 rechte und rassistische Gewalttaten registriert, darunter

125 Körperverletzungsdelikte. In 75 Prozent dieser Fälle haben die Betroffenen Anzeige erstattet oder die Ermittlungsbehörden Kenntnis vom Geschehen gehabt."Die Zahlen geben jeweils nur einen Ausschnitt des Problems rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt wieder," so eine Sprecherin der Mobilen Opferberatung. "Allerdings ist der Ausschnitt, den die Sicherheitsbehörden für das vergangene Jahr erfasst haben, erheblicher kleiner als in den Jahren zuvor." Schon für das Jahr 2006 war deutlich geworden, dass unstrittig neonazistische Angriffe -- wie der Angriff von 40 organisierten Neonazis auf eine alternative Geburtstagsparty in Gerwisch im Oktober 2006 -- nicht vom Innenministerium als politisch rechts motivierter Gewalttaten mitgezählt wurden. "Rechte Gewalt hat sich in Sachsen-Anhalt auf hohem Niveau stabilisiert. Das machen auch die vier rechten Gewalttaten u.a. in Halle, Burg und Körbelitz an diesem Wochenende deutlich," betont die Mobile Opferberatung.

"Wir sehen für das vergangene Jahr eine hohe Differenz zwischen den vom Innenministerium und der Mobile Opferberatung erfassten Gewalttaten," so eine Sprecherin des Projekts. Auch in den Vorjahren hatte es Unterschiede zwischen den Zahlen und den durch die Mobilen Opferberatung und die Sicherheitsbehörden erfassten Fälle gegeben: Im Jahr 2006 beispielsweise hatten die Sicherheitsbehörden 122 (2005:116; 2004: 73) rechte Gewalttaten registriert; zum gleichen Zeitpunkt hatte die Mobile Opferberatung 178 Fälle (2005: 170, 2004:116) erfasst.

Differenzen ergeben sich aber u.a. auch dadurch, dass die Sicherheitsbehörden im Gegensatz zur Mobilen Opferberatung typische Demonstrationsdelikte von Rechten wie Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte oder Landfriedensbruch als Gewaltdelikte erfassen.

Demgegenüber wertet die Mobile Opferberatung ausgewählte Fälle von gravierenden Sachbeschädigungen auch als Gewaltdelikte. Ein weiterer Unterschied ergibt sich aus der Erfassung von Bedrohungen und Nötigung, die in der Gesamtstatistik der Mobilen Opferberatung für das Jahr 2007 jedoch weniger als 10 Prozent ausmachen.

"Polizeipannen, aber auch immer wieder mangelhafte Aufarbeitungen durch Staatsanwaltschaften oder Gerichte nach rechten Angriffen - wie 2007 in Halberstadt oder Burg - dürfen sich in diesem Jahr nicht wiederholen. Erst dann verbessert sich die Situation für Opfer rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt - und nicht durch Sonntagsreden und Öffentlichkeitskampagnen", so die Sprecherin der Mobilen Opferberatung."


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