Rechtsextremismus in Deutschland – eine Momentaufnahme (IX): Die rechtsextreme Szene in Niedersachsen ist weit gefächert und hat Breitenwirkung: Kooperationen mit Rechtsextremen in Sachsen-Anhalt, Nordrhein-Westfalen oder Bremen werden gepflegt. Auch die NPD gewinnt Anhänger.
Die Fragen beantwortet Reinhard Koch, Leiter der Arbeitsstelle Rechtsextremismus und Gewalt bei der Bildungsvereinigung Arbeit und Leben Niedersachsen OST gGmbH.
Wie sieht Rechtsextremismus in Niedersachsen derzeit aus?
Es gibt nichts, was es nicht gibt: Rechtsextreme Parteien, Kameradschaftsszene, Musikkonzerte. Außerdem hat Niedersachsen einen traurigen Spitzenplatz bei den rechtsextremen Straftaten, auch wenn für 2006 ein leichter Rückgang zu verzeichnen ist: Platz 3 hinter Nordrhein-Westfalen und Berlin.
Wie zeigt Rechtsextremismus sich hauptsächlich? Gibt es Schwerpunkt-Regionen?
Eine Schwerpunkt-Region ist Verden – dort ist die NPD im Kommunalparlament, deren Jugendorganisation JN hat dort seinen Stützpunkt, es gibt den Heisenhof von Jürgen Rieger als rechtsextremes Schulungszentrum, eine lebhafte Kameradschaftsszene. In Wolfenbüttel / Salzgitter sind die Republikaner sehr stark vertreten. Im Harzvorland hat die NPD Mandatsträger und baut derzeit mit Hilfe der Kameradschaftsszene eine neue Parteistruktur mit Ortsverbänden auf – kräftig unterstützt von der Kameradschaftsszene und der NPD des Harzvorlandes in Sachsen-Anhalt. In Schaumburg gibt es vor allem eine präsente Kameradschaftsszene mit der Kameradschaft Weserbergland, die bis nach Nordrhein-Westfalen ausstrahlt. Die machen aktionsorientierte Dinge, Aufmärsche, Kundgebungen, Kameradschaftstreffen – sie zeigen viel öffentliche Präsenz. Dort gibt es angeblich jetzt auch eine neue Immobilie, die als Erbschaft Herrn Rieger überlassen wurde. Im Landkreis Lüneburg gibt es Mandatsträger einer NPD-nahen Wählerliste und eine aktive Kameradschaft, die "Schnevern Jungs". Außerdem leben hier mehrere NPD-Funktionäre. Im Landkreis Stade hat die NPD mit Adolf Damann einen Mandatsträger, der zugleich ein Repräsentant der Kameradschaftsszene ist. Helmstedt ist eine NPD-Hochburg seit 15 Jahren. Hier gibt es keine Kameradschaftsszene, die NPD fährt hier die Biedermann-Strategie. In Celle gibt es eine breit gestreute rechtsextreme Szene – einen Abgeordneten der Republikaner, ein „Sozial-patriotische Bündnis“ (SPB) und eine aktive Kameradschaftszene. In Wolfenbüttel sitzt die NPD im Stadtparlament, in Salzgitter die Republikaner. Zugleich ist hier die Kameradschaftsszene sehr aktiv, vor allem im Musikbereich.
Welche sind die wichtigsten Organisationen?
Wichtigste Parteien sind hier die NPD und die Republikaner. NPD, Republikaner und rechtsextreme lokale Bündnisse erlangten bei den Kommunalwahlen 2006 32 Mandate. Davon entfielen 18 auf die NPD, 6 auf die Republikaner. Zum Vergleich: 2001 waren es insgesamt 8 Mandate. Die parteipolitische Szene ist gut abgestimmt: Wo die einen antreten, treten die anderen nicht an. Ihre Wählerschaft finden sie im ländlichen Raum. Dort suchen sie sich gut im Gemeindeleben verankerte Leute für ihre Propaganda und sind damit sehr erfolgreich – ähnlich, wie die NPD auch in östlichen Bundesländern vorgeht. Tatsächlich gab es in der NPD auch schon Schulungen für kommunalpolitische Beraterkreise durch NPD-Mandatsträger aus Sachsen. Die Strategien aus dem Osten werden hier also auf den Westen übertragen.
Dann gibt es in Niedersachen rund 20 Kameradschaften. Hierbei sind zwei grundsätzliche Ausrichtungen zu unterscheiden: Die hochpolitisierten Kameradschaften, die zum Teil auch bundesweit ausstrahlen – solche finden sich in Schaumburg (Kameradschaft Weserbergland), Celle (Kameradschaft Celle) oder Lüneburg. Und die erlebnisorientierteren Cliquen, die sich mehr Gewalt und Alkohol widmen. Diese gibt es etwa in Gifhorn und Salzgitter.
Außerdem gibt es in Niedersachsen eine ausgeprägte Rechtsrock-Kultur mit langer Tradition. Die bekanntesten Bands derzeit sind Saccara (Bremer Umland), Nordfront (Hannover), Terroritorium (Hannover) und Donnerhall (Peine). Es ist eine Kultur, die wächst. Natürlich gibt es auch entsprechende Versandhandel und Läden.
Gibt es „lokale Spezialitäten“ der Szene?
Die NPD überträgt die Strategien, mit denen sie im Osten Deutschlands erfolgreich ist, jetzt auf Niedersachsen. Bei der Kommunalwahl etwa traten die NPD-Kandidaten als „Kümmerer der kleinen Leute“ auf, die mit Aktionen wie „Wir füllen Ihr Hartz IV-Formular aus“ oder „Wir helfen bei der Lehrstellensuche“ punkten konnten. Mit der Thematisierung sozialer Fragen und starker Kapitalismus-Kritik war es wirklich das „Erfolgsmodell Ost“, dass die NPD in Niedersachsen auf die Zivilgesellschaft losließ – die ziemlich unvorbereitet war.
Welche aktuellen Trends, Strategien beobachten Sie?
Die großen Kameradschaften sind vielfältig aktiv. Ein Beispiel ist die Kameradschaft Celle. Die machen Traditionelles, wie Braumtums- oder Heimatpflege, aber gründen auch die „Bürgerinitiative für Zivilcourage“ (sic!) und bilden ein Netzwerk der Kameradschaften für Niedersachsen aus.
Strategisch interessant ist auch die Situation in Verden, die besonders von Aktivitäten der NPD-Jugendorganisation JN geprägt ist. Hier ist die Schuloffensive der JN erdacht und gestartet worden – also die Strategie, direkt an Schulen zu gehen und dort präsent zu sein und Propagandamaterial wie die Schulhof-CD zu verteilen. Eine Strategie, die erfolgreich zu Medienpräsenz führte und die unvorbereiteten Schulen empfindlich traf. Die JN hat in Verden auch eine eigene Schülerzeitung („Der Rebell“). Nicht zuletzt ist Jürgen Riegers „Heisenhof“ dort ein Schlachtschiff, eine Anlaufstelle und eine Kommunkationszentrale der NPD. Die Stadt selbst hat gut auf die rechtsextreme Herausforderung reagiert. Es gibt dort breiten Widerstand, viele Ideen, Vereinsstrukturen, Aktionen an Schulen, eine deutliche Positionierung der Politiker der Stadt, eine agile Zivilgesellschaft. Vorbildlich!
Im Vorfeld der Landtagswahl 2008 beobachten wir, dass derzeit alle in den Startlöchern stehen. Die NPD-Vertreter versuchen, sich eher als „Biedermänner“ einzuführen. Die Kameradschaften werden zugleich militanter, auch wenn sich das nicht immer in der Gewaltstatistik wiederspiegelt. Oft geht den Rechtsextremen eine Art Bugwelle der Gewalt voraus. Die Alltagspräsenz reicht, um politische Gegner oder potenzielle Opfer einzuschüchtern. Die NPD ist auf die Stimmen aus den Kameradschaften angewiesen, hat sich aber bisher nicht zu einem militanteren Standtpunkt entschließen können.
Als wie bedrohlich schätzen Sie Rechtsextremismus in Niedersachsen derzeit ein und warum?
Es ist ein deutliches Zeichen, dass in Niedersachsen zunehmend direkt NPD gewählt wird. Statt den Umweg über Subkultur und Kameradschaft zu nehmen, freunden sich immer mehr Menschen direkt mit der Ideologie der NPD an. Rechtsextremismus ist keine Geschichte zum Zurücklehnen. Des rechtspopulistische Einstellungspotenzail existiert in Niedersachsen wie bundesweit. Die Rechtsextremen werden nicht von selbst wieder verschwinden. Sie haben in Niedersachsen jetzt Strukturen aufgebaut, die sie vorher nicht hatten, und gewinnen zunehmend an Erfahrung in der kommunalpolitischen Arbeit. Zugleich haben wir Behörden, die eher zugeschaut haben, als etwas gegen rechtsextreme Strukturen zu tun. Es gibt keine Opferberatungsstelle und so fehlen die Erkenntnisse über Opfer rechtsextremer Gewalt in Niedersachsen.
Interview: Simone RafaelSind Sie aktiv?
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www.mut-gegen-rechte-gewalt.de - 16.07.2007