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Ende Oktober 2012 wurde in der kleinen Gemeinde Wandlitz (Brandenburg) bekannt, dass eine Flüchtlingsunterkunft in einem ehemaligen Oberstufenzentrum eingerichtet werden soll. Wie in vielen anderen Städten gründete sich auch in der Gemeinde im Landkreis Barnim kurz nach der Bekanntgabe der Pläne eine Bürgerinitiative, die mit dem Slogan „Für humane Einzelunterbringung“ für eine Verlegung der Geflüchteten eintrat. Die Behauptung, dass Sammelunterkünfte kein „humanes“ Leben ermöglichen könnten, fungierte als Scheinargument, hinter der sich unterschiedliche Ängste und Ressentiments in der Bevölkerung versteckten. Über die Lebenssituation der Flüchtlinge wurde in der Bürgerinitiative nicht gesprochen. Die gesamte Gemeindevertretung inklusive Bürgermeisterin setzte ihren Namen auf die eigens von der Bürgerinitiative initiierte Unterschriftenliste, um sich für einen anderen Standort auszusprechen und eine Verlegung der Flüchtlinge zu bewirken. Die daraufhin organisierte Bürgerversammlung, die mit 400 Beteiligten die größte seit der Wende darstellte, sollte Fragen aus der Bevölkerung klären. Neben vielen Bürgerinnen und Bürgern waren auch die Neonazi-Kameradschaft aus dem nahe gelegenen Bernau sowie Vertreterinnen und Vertreter der NPD anwesend.
Hausverbot für die NPD
Mathis Oberhof, Koordinator des „Runden Tischs der Toleranz“ in Wandlitz war einer der ersten, der auf der Bürgerversammlung öffentlich für die Flüchtlinge eintrat. Dreizehn Monate später erinnert er sich an diesen Abend und ist sich sicher, dass es enorm wichtig war, die Ängste der Bevölkerung anzunehmen, aber trotzdem auch die Perspektive der Flüchtlinge in die Debatte miteinzubeziehen. Außerdem sei das Handeln der anwesenden Bürgermeisterin ein starkes Signal gewesen: Mit einem Verweis auf das Hausrecht wurde der NPD ein Hausverbot erteilt, sodass die verunsicherte Bevölkerung nicht durch die Argumentente der Neonazis beeinflusst werden konnte. Im Nachhinein sei es enorm wichtig gewesen, dass die diffusen Ängste der Anwohnerinnen und Anwohner ernst genommen und gleichzeitig mit Fakten widerlegt worden seien. Eine pauschale Verurteilung der Bürgerinnen und Bürger als „rassistischer Mob“, warnt Oberhof, hätte keine konstruktive Auseinandersetzung bewirkt.
Engagement bewirkt Wandel
Mathis Oberhof erzählt, dass er in den darauf folgenden Tagen viele Anrufe bekommen habe, in denen sich Mitbürgerinnen und Mitbürger für seine Worte auf der Versammlung bedankt hätten. Kurze Zeit später gründeten die evangelische Pfarrerin der Gemeinde und die Katholischen Diakonie den „Runden Tisch der Toleranz“. In dieser Initiative engagieren sich, ganz ohne Parteieinfluss, etwa 80 Menschen aus der Gemeinde. Vor der Bürgerversammlung positionierte sich die Mehrheit der Wandlitzerinnen und Wandlitzer gegen das geplante Heim, verbalisierte Ängste und Unzufriedenheit. Die Organisatorinnen und Organisatoren des Runden Tisches verurteilten diese Stimmung nicht, nahmen sich ihrer an und stießen in der 20.000-Einwohner-Stadt eine Debatte über die Asylgesetze in Deutschland und das Leben von Flüchtlingen an. Das Ziel, so Mathis Oberhof, sei von Anfang an gewesen, die Einheimischen mit den Flüchtlingen in Kontakt zu bringen. Durch die Spendenaktion, die der Runde Tisch ins Leben rief, wurden die bestehenden Kontakte genutzt, um Menschen zu motivieren sich für die Bewohnerinnen und Bewohner der Unterkunft zu engagieren.
Deutschkurs, Kochkurs und Fahrrad-Werkstatt
Dreizehn Monate nach der Bürgerversammlung rät Mathis Oberhof anderen Kommunen, dass die Freiwilligkeit der Menschen, in ihrer Freizeit Angebote für die Flüchtlinge zu organisieren, immer im Mittelpunkt des Engagements stehen sollte.
Die daraus resultierende Bandbreite der Angebote, die für die Flüchtlinge organisiert wurden, kann sich sehen lassen: Diese reicht von Deutsch- und Kochkursen, bis hin zu einer Fahrrad-Werkstatt, in der gespendete Fahrräder für Flüchtlinge aufgebessert werden. Die Fahrräder förderten direkt die Mobilität der Flüchtlinge und seien oft das erste Eigentum der Flüchtlinge, so der Koordinator des Runden Tischs.
Eine besonders wirksame Aktion, von der Oberhof berichtet, ist auch die Arbeit eines Kinderfilm-Regisseurs aus Wandlitz, der zusammen mit Kindern aus der Unterkunft und aus der lokalen Grundschule einen Kinderfilm über den Lebensalltag von geflüchteten Kindern drehte, der Mitte Januar Premiere feiert.
Durch das Engagement der Gemeinde wird nicht nur der Lebensalltag der Flüchtlinge verbessert - vielmehr werden durch den Kontakt mit den Bewohnerinnen und Bewohnern der Unterkunft Vorurteile abgebaut – das beste Mittel gegen Ressentiments und rassistische Stereotype.
Runder Tisch verhindert Abschiebung
Der größte Erfolg, von dem Mathis Oberhof erzählen kann, sei jedoch die Zusammenführung der tschetschenischen Familie Betcceva Ende Oktober 2013 gewesen. Die Mutter der Familie lag alleine in Deutschland im Krankenhaus, als ihr Ehemann und ihre vier Kinder in den Drittstaat Polen abgeschoben wurden. Der „Runde Tisch der Toleranz“ organisierte kurz nach der Abschiebung eine Online-Petition an das Bundesamt für Migration, die von Bundestagsabgeordneten unterstützt wurde. Deutschland übernahm daraufhin das Asylverfahren, so dass die Familie wieder einreisen konnte. Der Runde Tisch kümmerte sich um eine Wohnung und Einrichtungsgegenstände.
Es kommt auf die öffentliche Meinung an
„Die Nazis lassen sich mit diesen Aktionen nicht umdrehen, aber man kann diese Menschen in die Defensive bringen“, ist sich Oberhof sicher. Als die NPD am Pfingstsamstag 2013 vor der Flüchtlingsunterkunft aufmarschieren wollte, wurden binnen 20 Stunden über 250 Menschen mobilisiert, um vor der Unterkunft Stellung zu beziehen. Mit einem antirassistischen Chorkonzert und bunter Verkleidung wurde den Bewohnerinnen und Bewohnern des ehemaligen Oberstufenzentrums gezeigt, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung mit ihnen solidarisiert und somit öffentlich gegen die NPD positioniert. Die Menschen aus Wandlitz haben gelernt, dass die Motivation von Neonazis, in einer Stadt aktiv zu werden, steigt, je weniger zivilgesellschaftliches Engagement vorhanden ist.
Als zweiten wichtigen Faktor für die Veränderung in Wandlitz nennt Oberhof die gute Berichterstattung der lokalen Presse. Er schätzt, dass mit etwa 40 Beiträgen über die Aktivitäten des Runden Tischs berichtet worden sei. Die öffentliche Meinung in Wandlitz sei eindeutig umgedreht worden, obwohl die NPD bei der letzten Wahl nicht weniger Stimmen bekommen habe als im Wahljahr 2009.
Einbeziehung der Bevölkerung verhindert Vorurteile
Das Beispiel Wandlitz zeigt, dass eine positive Auseinandersetzung mit einer Flüchtlingsunterkunft immer auch die Anwohnerinnen und Anwohner miteinbeziehen muss. Ein wichtiger Faktor stellt auch die Art und Weise der Debatte darüber dar: Ängste und Befürchtungen der Bevölkerung müssen zwar ernst genommen werden, die „Betroffenheit“ sollte jedoch nicht im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stehen. Gerade durch das Zusammentreffen der Bevölkerung mit den Flüchtlingen konnten ganz von alleine Vorurteile abgebaut werden. Dies geschieht, wenn die Perspektive und Lebenssituation von Flüchtlingen in den Fokus der öffentlichen Debatte gerückt wird.
Dieser Artikel erschien erstmals in der Handreichung "Die Brandstifter - Rechte Hetze gegen Flüchtlinge". Die vollständige Broschüre gibt es zum Download hier.