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Ein Projekt des Magazins stern und der Amadeu Antonio Stiftung
Zu den Rätseln des Lebens gehört für mich die Mathematik. Deshalb bin ich ganz besonders stolz, wenn ich ausnahmsweise einen Zipfel der mir verschlossenen Weisheit erwische. Wenn ich ein mathematisches Bild verstehe, zitiere ich es gern und zu jeder passenden Gelegenheit.
Umgekehrt proportional – ist so eine Formel, die wunderbar zum Leben passt. Sie bedeutet ganz grob, dass wenn eine Seite der Formel zunimmt, nimmt die andere Seite entsprechend ab. Oder so viel wie: wo etwas mehr wird, wird es woanders weniger. Umgekehrt proportional ist vieles beim Thema Rechtsextremismus, besonders aber die Art wie damit umgegangen wird. Nehmen wir die Extremismusklausel. Sie ist albern, politisch unsinnig und in ihrer Wirkung fatal. Will man Rechtsextremismus bekämpfen ist es nicht hilfreich, denjenigen, die sich diesem unangenehmen Thema widmen, mit Misstrauen zu begegnen.
Soweit ist alles klar. Die inzwischen erfolgreichen Bemühungen der neuen SPD-Familienministerin Schwesig, diese Klausel abzuschaffen, sind deshalb nachvollziehbar. Das Weglassen aber als heroischen Akt zu feiern, zeigt dass etwas nicht stimmt. Denn sich mit derartigem Unsinn zu beschäftigen, statt mit dem Rechtsextremismus selbst, ist unproduktiv und ärgerlich.
Und hier kommt jetzt die Formel: der absurde Kampf um die Extremismusklausel verhält sich umgekehrt proportional zu den notwendigen Konsequenzen nach dem Staatsversagen um den NSU. Je mehr Wind gemacht wird, um das überflüssige Nichts dieser Klausel, desto weniger Aufmerksamkeit gilt dem innerstaatlichen und strukturellen Defizit, das durch den Fall des NSU offenbar wurde: Rassismus bei Polizei, Verfassungsschutz und anderen Behörden waren nur für einen winzigen Augenblick Thema für die Öffentlichkeit. Der ist nun wieder vorbei. Anstatt dass darüber mit unserer immer diverser werdenden Gesellschaft debattiert wird, gibt es wieder Extremismus als politisches Programm. Wir haben wirklich andere Sorgen, als uns mit der Dummheit solcher Formeln zu beschäftigen!
Dabei erreichen die gescholtenen Projekte gegen Rechtsextremismus sehr viel. Jahrelang fand im Februar regelmäßig die größte Nazidemo Europas statt. Ungehindert und unter Polizeischutz marschierte die rechtsextreme Bewegung durch Dresden. Bis zu 7000 Nazis konnten ihren „Trauermarsch“ anlässlich der alliierten Bombenangriffe auf die Stadt im Jahr 1945 abhalten. Ungestraft und von der breiten Öffentlichkeit in der Stadt weitgehend ignoriert verbreiteten sie ihre Slogans vom „Bombenholocaust“ und setzen so die Bombentoten mit den Opfern des vorsätzlichen, industriellen Massenmords an Juden und anderen gleich. Stadt und Bürger waren der Auffassung, dass ein Protest dagegen unnütz sei - etwas für querulante Kinder, die die andächtige Stille des allgemeinen und gerechtfertigten Gedenkens stören würden. Dass Nazis durch ihre Stadt marschierten, fanden sie weniger schlimm als die Nazigegner, von denen sie den Eindruck hatten, sie würden den Opferstolz und die Trauer grundsätzlich infrage stellen. Jahr für Jahr kämpften sich die Nazigegner ein Stück weiter in die öffentliche Wahrnehmung hinein, welche Schande die Nazis heute über Dresden in Wahrheit bringen. Die Nazis und nicht deren Gegner. Ihr gruseliger Marsch, ihre Losungen, ihre Anmaßungen. Und nicht der Widerstand, nicht das Hinsetzen auf dem Weg, den die Nazis in die Normalität hinein zu gehen beabsichtigen.
Jedes Jahr, immer wieder, stellten sich die Nazigegner dem braunen Mob und deren Verharmlosern und Helfern entgegen, egal wie die Strategie der Polizei jeweils war. Solange, bis die Nazis verschwinden, weil sie keine Lust mehr haben, blockiert zu werden. So verkündeten sie es. Und dieses Jahr nun ist es soweit. Die Nazis marschieren nicht mehr. Sie machen lediglich eine kleine Kundgebung, weil sie schon wissen, dass sie nicht einfach mehr marschieren dürfen. Und es ist zu erwarten, dass noch sehr viele kommen werden. Macht keinen Spaß mehr, so als Nazi auf dem Weg durch Dresden beschimpft, blockiert und geächtet zu werden. Also lassen sie es. Ja! Das ist ein Erfolg! Sich den Nazis in den Weg zu stellen erfordert Mut, vor allem wenn man aus der Bevölkerung und Stadtverwaltung dafür weniger Solidarität als Feindseligkeit erntet. Aber es hat funktioniert. Und nicht das Wegschauen. Wegschauen hat in Deutschland noch nie geholfen. Wir gratulieren allen, die so ausdauernd den notwendigen Mut hatten! Dresden wird bald „nazifrei“ sein. Danke!