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Von Kira Ayyadi, der Artikel erschien zuerst auf belltower.news
„Ich will so leben, dass ich für andere ein gutes Beispiel bin und auch am Schluss sagen kann, ich habe nichts falsch gemacht“, erzählt Ilse Leine (Name geändert) an ihrem Kaffeetisch unter Tränen. Eigentlich habe sie keine besondere Geschichte zu erzählen, meinte die 70-jährige Rentnerin noch bei unserem ersten Gespräch. Und doch ist Ilse Leines Geschichte eine besondere, die sich so vielleicht vielfach auch an anderen Orten abspielt: Ihr ganzes Leben lebte sie in einem kleinen sächsischen Ort. Immer wieder redete sie gegen antisemitische und rassistische Äußerungen an. Doch nun hat die Unverschämtheit und Unverfrorenheit, mit der Boshaftigkeiten gesagt werden, ein Ausmaß angenommen, gegen das sie nicht mehr ankommt. Sie musste wegziehen.
Seit den 1930er Jahren besaß die Familie von Ilse Leine einen Laden in ihrer sächsischen Heimatstadt. Das kleine Fachgeschäft hat sich im Laufe der Zeit immer wieder den Gegebenheiten angepasst. Noch zu DDR-Zeiten übernahm Ilse Leine schließlich den Laden. „Von 3 bis 99“, so beschreibt sie an einem schwülen sonnigen Maitag ihren damaligen Kundenstamm. Und dazu zählten auch immer wieder „die Glatzen“, wie Ilse Leine Neonazis bezeichnet. In keiner Weise wurde sie in ihrem Geschäft angefeindet, und falls doch mal einer der Neonazis mit Ilse Leine über Politik reden wollte, wiegelte sie das immer schnell ab. „Ich habe die Leute immer anständig behandelt, so dass sie Ehrfurcht vor mir hatten. Das hat mir geholfen.“ Ilse Leine kann sich nicht an eine Zeit erinnern, in der es keinen unterschwelligen Rassismus oder Antisemitismus im Ort gegeben hätte. Verstärkt worden sei das Ganze dann während der Kommunalwahlen 2014. Plötzlich sei das Wahllokal voll mit jungen und rechtsextremen Erstwähler*innen gewesen. Als „ganz weit rechts“ bezeichnet Ilse Leine diese jungen Menschen.
Im Zuge der Migrationsbewegungen kam es dann zu einem Brandanschlag auf eine noch unbewohnte Flüchtlingsunterkunft in der Nähe ihres Wohnortes. Ilse Leine begann, öffentlich Position zu beziehen. Sie beteiligte sich an Protestveranstaltungen gegen Rechtsextremismus und menschenfeindliche Ideologie. Wobei sie immer wieder betont, dass sie keiner Partei angehört und auch sonst nicht organisiert war.
„Das sind alles so kleine Versuche zu zeigen, wo man steht“
Auf der Straße begegnete sie immer wieder hochrangigen Szenegrößen, die alle ehemalige Kunden von ihr waren. „Da muss man sich überlegen, wechsle ich jetzt die Straßenseite oder laufe ich an denen vorbei“, erzählt Ilse Leine. Zwar war sie im Ort bekannt dafür, rechter Ideologie zu widersprechen, trotzdem seien die Neonazis immer „anständig“ zu Frau Leine gewesen. Ihr ist nie Gewalt angedroht worden.
Vor einigen Jahren backte Ilse Leine kleine Figürchen, die sie bei sich in das Erdgeschossfenster hing. Die Figürchen sahen möglichst divers aus, also einige mit Kopftuch andere mit Kipa. Frau Leine befürchtete, dass ihr die Neonazis vielleicht das Fenster einschlagen würden. Das ist allerdings nicht passiert. „Das sind alles so kleine Versuche zu zeigen, wo man steht.“
Rassistisches Pamphlet auf einem Geburtstag
Das Fass zum Überlaufen brachte eine Situation auf einem Geburtstag vor einigen Jahren. Die rund 20 geladenen Damen waren alle zwischen 70 und 90 Jahren alt. Die Stimmung sei gut gewesen, man habe Kaffee getrunken und sich nett unterhalten, erinnert sich Ilse Leine. Plötzlich steht die Gastgeberin auf, holt einen Zettel hervor und liest ein Gedicht vor. „So ein rassistisches Gedicht habe ich noch nicht gehört.“ So richtig böse, so doof, beschreibt sie es, immer noch fassungslos. Die Gastgeberin habe die niedersten Instinkte ihrer Gäste mit Humor, Wut und Misstrauen wecken wollen.
„Und da bin ich aufgestanden und habe gesagt: Liebe Leute, wir haben uns bis jetzt ja anständig unterhalten, aber das lasse ich nicht zu. Habt ihr denn alles vergessen, was früher passiert ist?“ Doch die Gäste starrten sie nur fassungslos an. Sie drohte damit zu gehen, wenn sie keine Antwort erhält. Das tat Ilse Leine dann auch. Auch zwei Jahre nach diesem Eklat, wie sie es bezeichnet, ist spürbar, dass diese Situation nach wie vor schmerzt.
Dieser Geburtstag hatte ihr den Rest gegeben. Sie wollte nicht mehr an diesem Ort sein. Sie wollte weg. Und so setzte sie ihren Entschluss in die Tat um und verließ ihre Heimat und Sachsen. „Dass diese Entscheidung richtig war, hat sich immer wieder bestätigt.“ Das sieht sie besonders auch an den Reaktionen auf ihren Schwiegersohn, einem Mann mit lateinamerikanischer Familiengeschichte. Bereits kurz nach ihrem Umzug war Ilse Leine gemeinsam mit der Tochter, dem Schwiegersohn und der Enkelin in der alten Heimat. Beim Einkauf fragte dann eine fremde Frau die Tochter: „Sie sind so eine schöne Frau, warum muss es denn so ein Schwarzer sein?“ Und mit dem Kind müsse man ja eh nicht reden, das würde bei seinem dunklen Vater ja eh kein Deutsch verstehen. Als die Tochter dann völlig aufgelöst zu ihrer Mutter ins Auto kam, war Ilse Leine von der Reaktion ihrer Tochter „total geängstigt“.
Die Geschichten, die Ilse Leine aus dem Ort zu erzählen hat, sind erschreckend: Sei es, dass Schwiegersohn und Enkelin nicht ohne Begleitung auf den Spielplatz oder zum Einkaufen gehen, oder von Freundschaften, die aufgrund rechtem Gedankengut zerbrochen sind.
Sachsen hat nun eine Engagierte weniger
Aber warum immer wieder Sachen? Darauf hat auch Ilse Leine keine genaue Antwort. Sie erzählt von der Wirtschaft in der Region während der DDR-Zeit und von der aussichtslosen Stimmung in der Wendezeit, von einem extrem rechten Stadtrat, der rassistische Aussagen sagbar machte, und von Flüsterpropaganda, die viel besser als Facebook funktioniere, weil da ja eine Person gegenüber ist, die diese rassistischen Geschichten quasi autorisiert.
Man merkt, dass Ilse Leine sich selber Vorwürfe macht. Sie sagt, sie habe sich „der Situation entzogen“, das höre ja schließlich nicht einfach auf, nur weil sie weggezogen sei. Ilse Leine hat für einige Zeit in der Flüchtlingshilfe gearbeitet. Die Menschen, die sie mit ihrem steten antirassistischen Widerspruch letztendlich auch geschützt hat, haben nun eine Person weniger, auf die sie sich verlassen können.
„Ich habe mir mein ganzes Leben lang Mühe gegeben, aber jetzt muss ich auch ein bisschen an mein Seelenheil denken.“