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Am Montag sind tausende gewaltbereite Neonazis durch die Chemnitzer Innenstadt gezogen. Für einige Stunden hat der Staat sein Gewaltmonopol an rechtsextreme Gewalttäter abgegeben. Wie konnte das passieren?
Von Zamira Alshater
Am Montagabend, den 27. August, ist ein rechtsextremer Mob, Parolen skandierend, durch die Chemnitzer Innenstadt gezogen, schon wieder. Für die Demonstration, die vorgeblich ein „Trauermarsch“ sein sollte war, hatte das rechtsextreme Bündnis „Pro Chemnitz“ geworben. Und so traf sich eine braune Mischung aus „Wutbürger*innen“ und Neonazis am Abend vor dem Karl-Marx-Denkmal. Zwischen 5.000 bis 8.000 Teilnehmer*innen sollen es gewesen sein.
Ihnen gegenüber standen mutige 1.500 zivilgesellschaftliche Anti-Faschist*innen. Am Tag zuvor war es in Chemnitz, ausgelöst durch einen Todesfall, zu einer Menschenjagd gekommen. Neonazis attackierten in der Stadt wahllos migrantisch aussehende Menschen. Die Strategie vieler Gegenprotestler*innen am Montag war es dann, die Aufmerksamkeit der Neonazis und damit auch das Gewaltpotential weg von den Migrant*innen auf sich zu ziehen.
„Das sind ja alles nur Nazis“
Trotz der breiten digitalen Mobilisierung in vielen rechtspopulistisch-flüchtlingsfeindlichen „Wutbürger-Gruppen“ auf Facebook waren in Chemnitz vor allem offene Neonazis auf der Straße. Am Rande der Kundgebung standen überraschte Grüppchen von „besorgt Büger*innen“ herum, die sich angesichts der Neonazi-Präsenz dann doch nicht dem rechtsextremen Mob anschließen wollten und feststellen mussten: „Das sind ja alles nur Nazis“.
Bereits während der Kundgebung, die um 18.30 Uhr begann, fingen die Rechtsextremen an, sich zu vermummen und Quarzsandhandschuhe überzuziehen – offenbar um sich auf einen Durchbruch zu den Gegendemonstrat*innen vorzubereiten. Auch Feuerwerkskörper und ein Baseballschläger wurden gesichtet. Journalist*innen wiesen die Polizeibeamt*innen mehrfach darauf hin, dass dieses Verhalten gegen das Versammlungsverbot verstößt. Die Polizei griff dennoch nicht ein – fahrlässig, wie sich später herausstellte, und auch zum Leidwesen der Polizeibeamten am Demozug, deren Sicherheit auch gefährdet wurde. Als der rechtsextreme Pulk nach vorne stieß, zu der Gegendemonstration, vordrang, konnte die spärlich besetzte Polizeikette dem nichts entgegensetzen. Lediglich die rechtsextremen Ordner konnten die aufgepeitschte Masse etwas besänftigen und so einen Angriff verhindern. Dennoch flogen zu diesem Zeitpunkt bereits die ersten Feuerwerkskörper aus der rechtsextremen Demonstration, in Richtung der Gegendemonstrant*innen und auf Polizeibeamt*innen. Straftäter*innen wurden dennoch nicht von der Polizei aus der Demo herausgezogen. Als zwei Wasserwerfer vorfuhren und die Polizei via Lautsprecher BEIDE Seiten der Demonstration aufforderte, das Begehen von Gewalttaten zu unterlassen, begann der rechtsextreme Mob sich selbstständig und unabgesprochen in Bewegung zu setzen. In dieser äußerst unübersichtlichen Lage stürmten Neonazis eine Empore, auf der Gegendemonstrant*innen und Journalist*innen standen. Diese flohen entsetzt in die entgegengesetzte Richtung. Als Polizeibeamt*innen die panischen Menschen auf sie zukommen sah, reagierte sie nicht. Sie reagierte auch nicht, als Journalist*innen sie auf die Angreifer*innen hinwiesen. Erst später gingen die Beamt*innen dann doch auf die Empore und nahmen jemanden in Gewahrsam. Es war ein Gegendemonstrant.
Weitestgehend ohne Polizeibegleitung zog dann der rechtsextreme und gewaltsuchende Mob von rund 5.000 Menschen durch die Chemnitzer Innenstadt. Unter den Augen der Polizei spalteten sich kontinuierlich kleinere Grüppchen vom Demonstrationszug ab und verschwanden in dunklen Gassen. Immer wieder waren laute Knallgeräusche zu hören. Spätestens zu diesem Zeitpunkt konnte die Polizei für niemand mehr Sicherheit in der Innenstadt gewährleisten. Und so kam es später auf einer Seitenstraße zu mindestens einem gezielten Angriff durch vermummte Neonazis auf eine Fünfergruppe jugendlicher Gegendemonstrant*innen. Auch als Einsatzkräfte sich schützend um die Gruppe stellten, versuchten rund zehn Neonazis die Verletzten abermals anzugreifen. Einige Angreifer standen unmittelbar vor der Polizei, die dennoch nicht eingriff und die Vermummten nicht in Gewahrsam nahm. Man ließ die Angreifer ziehen. Diese verschwanden in dunklen Gassen. Die mobile Opferberatung für Sachsen, RAA, kann bisher nicht sagen, zu wie vielen Übergriffen es am Montag kam. Dies werde erst noch ausgewertet.
Als die Rechtsextremen wieder am Karl-Marx-Denkmal angelangt waren, strömten die Nazis in großen und kleinen Gruppen in alle Himmelsrichtungen, weitestgehend ohne Polizeibegleitung. In diesen Minuten behauptete der stellvertretende Pressesprecher der Polizei, Andrcej Rydzik, allerdings gegenüber Journalist*innen, man würde die abreisenden Neonazis im Auge behalten. Wir haben davon nichts mitbekommen. Personell wäre das auch gar nicht möglich gewesen, schließlich habe man mit einigen hundert Teilnehmer*innen gerechnet und wähnte sich fälschlicherweise mit 591 Einsatzkräften angeblich gut vorbereitet, so der stellvertretende Polizeisprecher.
Das ist allerdings wenig glaubwürdig: Bereits am Vortag sind 800 bis 1.000 Menschen bei einer Spontandemo durch Chemnitz gezogen und haben Jagd auf Menschen gemacht haben. Mit einem Tag bundesweiter Mobilisierung muss man einfach mit mehr Teilnehmer*innen rechnen. Alleine in Sachsen gibt es laut Verfassungsschutz 2.600 Rechtsextreme, die die Behörden dann offenbar nicht richtig im Blick hatten. Ansonsten hätten sie feststellen müssen, welche Mobilisierungskraft die Demo-Ankündigung von „Pro Chemnitz“ alleine für die rechtsextreme Szene in Sachsen ausstrahlt. Auch stellt sich die Frage, warum die Kooperation mit den Kolleg*innen aus anderen Bundesländern nicht besser funktioniert hat. Gewaltbereite Rechtsextreme reisten aus dem gesamten Bundesgebiet an, unter anderem aus Berlin, Brandenburg, Thüringen, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. Wenn davon die Polizist*innen in den entsprechenden Länder nichts mitbekommen hätten oder keine Meldung nach Sachsen gegeben hätten, liefe da etwas gewaltig schief. Auf das extreme Mobilisierungspotential wurde die Polizei darüber hinaus auch vielfach über die sozialen Medien hingewiesen. Am Dienstag berichtete Der Tagesspiegel, dass offenbar auch der sächsische Verfassungsschutz die Chemnitzer Polizei mit dem Hinweis gewarnt haben soll, dass deutlich mehr Rechtsextreme und rechte Kampfsportler aus ganz Deutschland anreisen würden, als vom Veranstalter angemeldet worden waren. Dennoch war die Polizei nicht annähernd angemessen vorbereitet.
Sind also Teile der Polizei in Sachsen vollkommen inkompetent, naiv oder ist der ganze Einsatz gar absichtlich so erfolgt? In einem Video von Montag sieht man nach einem Böllerwurf und einem versuchten Angriff auf Gegendemonstrant*innen, wie einen aufgebrachter Rechtsextremer zu einem Polizisten sagt: „Wir wollen doch nur demonstrieren“. Der Polizist sagt daraufhin: „Wir wollen doch genau dasselbe. Und jetzt geht einfach.“ Dann gehen beide recht freundschaftlich davon.