Alltag in Wurzen anno 2008. Eine Gruppe von drei Wurzener Jugendlichen, die sich am Sonntag gegen 20 Uhr unmittelbar vor dem Kultur- und BürgerInnenzentrum D5 am Domplatz aufhielten, wurde plötzlich von drei mutmaßlich Rechtsextremen bedroht und angepöbelt, einer von ihnen geschlagen. Rechtsextreme geben sich hier besonders selbstbewusst. Als alternative Jugendliche zuvor einen "Antirassistischen Stadtspaziergang" veranstalteten, folgten ihnen bekennende Neonazis auf Schritt und Tritt.
Zumindest der mutmaßliche Schläger konnte als einer von 60-70 Rechtsextremisten erkannt werden, welche am Sonntagnachmittag am Wettiner Platz und am Wurzener Bahnhof versuchten, den "4.Antirassistischen Spaziergang der Wurzner Linksjugend" einzuschüchtern. Nur durch die Präsenz von Polizeikräften konnte eine drohende Eskalation knapp verhindert werden. Die Rechtsaußen trafen sich in unmittelbarer Nähe des Versandhandels Front Records in der Walther-Rathenau-Straße. Inhaber Thomas P. hatte für diesen Tag zum Grillen eingeladen wie aus Polizeikreisen bekannt wurde. Bereits auf dem Wurzener Markt und während des gesamten Spaziergangs, an dem ca. 50 Menschen teilnahmen, provozierten ca. 12-15 Rechtsextreme den Demonstrationszug mit einem Transparent, skandierten Nazislogans, fotografierten und filmten Teilnehmer und Teilnehmerinnen.
Vor Ort waren auch der Wurzener NPD-Stadtrat Schroth und der ebenfalls 2004 als NPD-Stadtrat gewählte Matthias M., der sein Mandat damals allerdings nicht antrat. Bereits Stunden vor dem Spaziergang wurden in der Innenstadt hunderte kleine Zettel mit rassistischen Inhalten verbreitet, die den so genannten Freien Kräften aus dem "Freien Netz", das unter anderem in Leipzig und im Leipziger Land sehr aktiv ist, zum Teil auf die "Nationalen
Sozialisten Muldental" zugeordnet werden können. "Der Angiff am Domplatz und die massiven Störversuche des Spaziergangs zeigen einmal mehr, wie gut die rechtsextreme Szene der Region vernetzt ist, wie schnell sie mobilisiert werden kann und dass deren Gewaltbereitschaft ansteigt", so Miro Jennerjahn vom NDK in Wurzen.
Gespenstischer Spaziergang
Einer der Teilnehmer des Wurzener "Sonntagspaziergangs" schickte der MUT- Redaktion folgenden Bericht:
"An dem Sonntagsspaziergang hatten sich etwa 50 Personen beteiligt - wie üblich kaum Wurzener. Ab etwa dem Marktplatz wurde der Zug von zunächst 10 bis 15 Nazis begleitet, die munter filmten, fotografierten usw. Eigentlich sollte die Route auch bei Front Records vorbei führen. Die Polizei veränderte dann die Route, weil sich dort eine größere Anzahl Nazis sammele. Am Wettiner Platz schließlich gab es einen Redebeitrag, bei dem rund 60 bis 70 Nazis zielstrebig auf die Spaziergänger zuhielten. Die Polizei, aufgrund der angespannten Situation in Leipzig , nur mit sehr wenig Personal vor Ort, hat sie mit Mühe davon abgehalten. Die Situation war extrem brenzlig. Ohne Polizei wäre der Zug definitiv aufgerieben worden, hätten die Nazis ernst gemacht, hätten sie sicher auch die Polizei überrannt.
Die Nazis vom Markt haben den Spaziergang quasi die ganze Zeit begleitet, auch hatten sie ein eigenes Transparent dabei (gegegen Multi-Kulti im Muldental oder so was). Mithin bildeten sie eine eigene, unangemeldete und aufgrund ihres Transparents kaum als spontan zu bezeichnende Demo. Leider sah sich die Polizei nicht in der Lage, das irgendwie zu unterbinden. Das ermunterte die Gruppe natürlich. Später, am Bahnhof haben sich dann auch einzelne von ihnen vermummt und herumkrakelt. Die Polizei sah dabei echt nicht gut aus. Überdies wurden die Beamten auf einmal immer weniger. Als eine große Horde der extrem Rechten mit Hund direkt an den verbliebenen Spaziergängern vorüberzog und dabei fleißig fotografierte (was eh die ganze Zeit passierte), drehten die Polizisten sich sogar demonstrativ weg. Man hatte irgendwie das Gefühl, dass ihnen unser Schutz nicht so wichtig war (vielleicht hatten sie ja selber Schiss).
NPD-Stadtrat Schroth war auch dabei (allerdings hielt er sich von den jungen Kameraden etwas fern) und fotografierte ebenfalls emsig mit seinem Handy. Neben ihm gab es noch weitere komische Gestalten, die den Spaziergang interessiert begleiteten. Dazu gehörten offensichtlich auch zwei unauffällige Kids mit Fahrrädern, die sich als Späher oder so versuchten.
Als sich die Lage dann halbwegs entspannt hatte, tauchten zu allem Übel noch ein paar ältere Lok-Hools auf, die wohl ihre vom zeitgleich stattfindenden Fußball-Derby in Leipzig (wo es ja wohl auch etwas gekracht hatte) zurückkehrenden Freunde abholen wollten.
Hab mich lange nicht so unwohl in Wurzen gefühlt. Zusammen mit ein paar sehr jungen Antifas bin ich dann mit nem Taxi nach Leipzig gefahren, da uns Zugfahren - ob begründet oder nicht - etwas zu unsicher vorkam. Die Presse war anfangs dabei, hat sich aber ziemlich schnell aus dem Staub gemacht. Bekam also leider die Zuspitzung am Ende gar nicht mehr mit.
Ergänzung (etwas lustiger, damit hier nicht so eine gedrückte Stimmung aufkommt): der originellster Demospruch des Tages lautete : "Uri Geller hilf uns doch - Wurzen gibt es immer noch ..." ;) "
www.mut-gegen-rechte-gewalt.de