Das Portal
für Engagement
Ein Projekt des Magazins stern und der Amadeu Antonio Stiftung
Die rassistische Gewalt gegen Geflüchtete ist 2016 massiv angestiegen – im Vergleich zum ersten Halbjahr 2015 hat sich die Zahl der Übergriffe mehr als verdoppelt. Bereits 90 Brandanschläge und 202 Verletzte in 2016.
Von Marius Münstermann
Die Zahl der Angriffe auf Geflüchtete und ihre Unterkünfte hat sich im Jahr 2016 im Vergleich zum ersten Halbjahr des Vorjahres mehr als verdoppelt. Ein Abgleich der Chronik flüchtlingsfeindlicher Vorfälle von Amadeu Antonio Stiftung und Pro Asyl mit der Statistik des Bundeskriminalamtes (BKA) zeigt erneut, dass die offiziellen Angaben der Ermittlungsbehörden die tatsächliche Dimension rassistischer Gewalt gegen Asylsuchende verzerren.
Die Chronik flüchtlingsfeindlicher Vorfälle der Amadeu Antonio Stiftung und Pro Asyl dokumentiert:
Quelle: Chronik flüchtlingsfeindlicher Vorfälle von Amadeu Antonio Stiftung und Pro Asyl
Alle drei Tage brennt eine Asylunterkunft
Tagtäglich gibt es gewalttätige Übergriffe auf Geflüchtete, im Schnitt brennt alle drei Tage eine Asylunterkunft. Doch die Dunkelziffer dürfte noch deutlich höher liegen. Viele Fälle kommen nie zur Anzeige – teils, weil die Betroffenen Angst vor der Polizei haben oder sie kein Aufsehen erregen wollen, aus Sorge um ihren Aufenthaltsstatus oder ihr laufendes Asylverfahren.
Ebenso sind Angriffe auf Polizei, Presse oder engagierte Unterstützer*innen in der Chronik nur begrenzt abgedeckt. Über derartige Übergriffe und rechte Aktivitäten im Allgemeinen geben die Zählungen verschiedener Opferberatungsstellen sowie die Chronik rechter Übergriffe von netz-gegen-nazis Auskunft.
Hinzu kommen hunderte rechte Demonstrationen und Kundgebungen, die gegen Geflüchtete hetzen. Die Chronik beschränkt sich jedoch auf Demonstrationen, bei denen es zu justiziablen Vorfällen kam (nicht angemeldet, Volksverhetzung, Hitlergruß, Angriffe auf Gegendemonstrant_innen, Presse, Polizei etc.).
In der Chronik flüchtlingsfeindlicher Vorfälle dokumentierte Übergriffe im 1. Halbjahr 2016, sortiert nach Bundesländern:
Quelle: Chronik flüchtlingsfeindlicher Vorfälle von Amadeu Antonio Stiftung und Pro Asyl
"Auch wenn nach der Gewaltexplosion im Januar und Februar 2016, die auch in den Sozialen Netzwerken ihre Entsprechung fand, die Häufigkeit etwas nachgelassen hat, haben wir es immer noch tagtäglich mit Angriffen auf Menschen zu tun: Alleine im Mai 2016 wurden von uns 44 Vorfälle gezählt, davon acht Brandanschläge und 16 tätliche Angriffe auf Asylsuchende. Das waren im Schnitt zwei Brandanschläge und vier tätliche Übergriffe pro Woche", so Timo Reinfrank, Stiftungskoordinator der Amadeu Antonio Stiftung.
Die Statistik des BKA verzerrt die rassistische Wirklichkeit
Die verantwortliche Behörde für die bundesweite Erfassung von Übergriffen auf Geflüchtete ist das Bundeskriminalamt (BKA). Hierbei bezieht sich das BKA auf Angaben der Bundesländer (Landeskriminalämter), die ihre Angaben wiederum von den einzelnen Polizeidienststellen beziehen. Auch wenn das BKA somit letztlich nur bündelt, was der Behörde aus den Ländern zugetragen wird, gilt festzuhalten: Die BKA-Statistik ist mangelhaft. Ein Abgleich der Chronik flüchtlingsfeindlicher Vorfälle mit der Statistik des BKA zeigt erneut, dass die offiziellen Angaben der Ermittlungsbehörden die tatsächliche Dimension rassistischer Gewalt gegen Asylsuchende verzerren. Das BKA verzeichnet im 1. Halbjahr 2016 insgesamt 589 Übergriffe (Stand 27.06.). Im selben Zeitrum haben Amadeu Antonio Stiftung und Pro Asyl mehr als 100 Vorfälle dokumentiert, die (bislang) in der Statistik des BKA fehlen (insgesamt 712).
Ein grundsätzliches Problem besteht darin, dass die Statistik des BKA erst mit einiger zeitlicher Verzögerung veröffentlicht wird – nämlich lediglich quartalsweise und zwar auf Nachfrage durch Abgeordnete im Bundestag. So bezieht sich die Bundesregierung in ihren Antworten auf Kleine Anfragen im Bundestag auf die Angaben des BKA. Anderweitig sind diese Angaben nicht zu beziehen. Dabei liegen die Zahlen laufend aktualisiert vor. Auf Presseanfragen etwa liefert das BKA durchaus wöchentlich aktualisierte Zahlen – jedoch ohne weitere Details zu den einzelnen Vorfällen zu nennen. Die Amadeu Antonio Stiftung fordert daher, dass die Angaben des BKA zeitnah und umfassend veröffentlicht werden müssten – nicht erst mit monatelanger Verzögerung und nicht erst auf Anfrage von Abgeordneten.
Festzuhalten gilt: Die auf Anfrage im Bundestag veröffentlichte Statistik des BKA bleibt lückenhaft. So hat das BKA im 1. Quartal 2016 nach eigenen Angaben 347 asylfeindliche Vorfälle verzeichnet (auch hier sind Nachträge üblich). Im selben Zeitraum – dem bislang gewalttätigsten seit Beginn dieser Zählung – dokumentiert die Chronik flüchtlingsfeindlicher Vorfälle der Amadeu Antonio Stiftung und Pro Asyl 566 Übergriffe.
Flüchtlingsfeindliche Vorfälle für das 1. Quartal 2016:
Quelle: Chronik flüchtlingsfeindlicher Vorfälle von Amadeu Antonio Stiftung und Pro Asyl
Brandanschläge auf bewohnte Unterkünfte sind versuchter Mord
Grundsätzlich fehlen detaillierte Angaben zu den einzelnen Vorfällen. So wird in der Statistik des BKA lediglich der Strafdelikt aufgeführt, den die vor Ort ermittelnde Polizeidienststelle festlegt (bzw. in manchen Bundesländern der Staatsschutz oder in Sachsen das Operative Abwehrzentrum, OAZ). Bereits an diesem Punkt ist die Ermittlungsarbeit häufig fragwürdig. So wird bei Brandanschlägen auf bewohnte Unterkünfte in vielen Fällen immer noch lediglich wegen Brandstiftung, nicht aber wegen versuchten Mordes ermittelt. Auch wird immer noch zu oft ein womöglich rassistisches Tatmotiv von den Ermittlungsbehörden ausgeschlossen. Ein Beispiel: In Rutesheim (Baden-Württemberg) brennt am 11. Januar 2016 ein Haus, in dem schon länger vermeintlich ausländische Familien und seit Neuestem auch eine aus Syrien geflüchtete Familie leben. Die Polizei geht von Brandstiftung aus, da eine Hintertür gewaltsam aufgebrochen wurde. Bereits wenige Tage zuvor, am 5. Januar, hatte es im selben Gebäude gebrannt. Auch in diesem Fall geht die Polizei von Brandstiftung aus. Ermittelt wird jedoch nicht wegen versuchten Mordes, sondern wegen schwerer Brandstiftung. Außerdem wertet die Polizei beide Fälle nicht als PMK-rechts (“politisch motivierte Kriminalität – rechts”).
Beispiel Freital (Sachsen): Während womöglich bald die Generalbundesanwaltschaft gegen die terroristische "Bürgerwehr FTL/360" ermittelt, wertet das BKA von insgesamt 9 Übergriffen auf Geflüchtete bzw. deren Unterkünfte in Freital im ersten Quartal dieses Jahres 4 Fälle von Sachbeschädigung nicht als rechts-motiviert.
Viele Angriffe tauchen in den offiziellen Zählungen nicht auf
Um in die Zählung des BKA aufgenommen zu werden, muss eine Asylunterkunft direktes Ziel eines Angriffs sein. Werden Geflüchtete im Umfeld der Unterkunft, etwa an der nächstgelegenen Bushaltestelle, angegriffen, finden diese Übergriffe sich in der Regel nicht in der BKA-Statistik. Ein Beispiel: Am 13. Januar attackierten mehrere teils vermummte Angreifer mit Schlagstöcken eine Gruppe von Asylsuchenden vor deren Unterkunft in Jena (Thüringen). Zwei Opfer mussten im Krankenhaus behandelt werden. Dieser Fall taucht in der Statistik des BKA nicht auf.
Ein weiteres Beispiel: Am 30. Januar bewarf ein Unbekannter in Ihringen (Baden-Württemberg) einen jugendlichen Asylsuchenden mit Steinen. Der Angreifer befand sich laut Polizei an einem Bahnsteig nahe des Wohnhauses einer geflüchteten Familie. Als der Jugendliche den Müll aus dem Haus brachte, sei der Angreifer ins Gleisbett gesprungen und habe den jungen Mann mit Schottersteinen beworfen. Dieser flüchtete zurück ins Haus. Vermutlich von einem Stein getroffen, zersplitterte ein Glas in der Wohnungstür. Auch dieser Vorfall fehlt beim BKA. Grundsätzlich werden viele Übergriffe auf dezentrale Unterbringungen von Geflüchteten nicht in die BKA-Statistik aufgenommen.
Die Chronik flüchtlingsfeindlicher Vorfälle hingegen erfasst auch Übergriffe, die sich nicht in unmittelbarer Nähe einer Unterkunft zutragen. Jedoch dürfte auch hier das wahre Ausmaß weitaus größer sein, als es die Zahlen der Chronik widerspiegeln.
Polizeidienststellen machen viele Vorfälle nicht öffentlich
Beispiel Hemmoor (Niedersachsen): Am 11. Januar gibt es laut BKA einen Fall von schwerer Brandstiftung, den die zuständige Polizeidienststelle als PMK-rechts einordnet. Seltsam: Ein Brandanschlag, der bis dahin in der Chronik flüchtlingsfeindlicher Vorfälle der Amadeu Antonio Stiftung und Pro Asyl fehlte. Wie konnte uns dieser Vorfall entgehen? Der Grund ist bald gefunden: Die erdienststelle hat zu dem Brand zwar eine Pressemitteilung veröffentlicht. Allerdings fehlt darin der Hinweis, dass der Anschlag einem Gebäude galt, das als Asylunterkunft im Gespräch war. Somit gab es auch keine entsprechende Berichterstattung in der Lokalpresse. Der Umstand, dass der Anschlag einer geplanten Asylunterkunft galt, wurde von der Polizei erst auf Nachfrage durch die Amadeu Antonio Stiftung bekanntgegeben. Weiter teilte die Polizeidienststelle mit, dass ein Tatverdächtiger ermittelt werden konnte. Bei einer Wohnungsdurchsuchung wurde Beweismaterial sichergestellt. Außerdem teilte die Polizei mit, dass eine Frau aus dem Umfeld des Tatverdächtigen zuvor öffentlich zu Angriffen auf Asylsuchende aufgerufen haben soll. Man könnte meinen, diese Entwicklung der Ermittlungsarbeit sei von öffentlichem Interesse. Dennoch hat die Polizei keine weiteren Pressemitteilungen zu diesem Fall veröffentlicht. Erst in der Chronik flüchtlingsfeindlicher Vorfälle wurde dieser Brandanschlag mit weiteren Details öffentlich gemacht.
Es handelt sich hierbei um ein grundsätzliches Problem: Viele Fälle werden von den ermittelnden Behörden nie öffentlich gemacht. Dies hat bereits eine Auswertung der Übergriffe in Berlin im Jahr 2015 gezeigt: Die Berliner Polizei machte von 57 Übergriffen nur 15 in Form einer Pressemitteilung öffentlich. Andere Fälle fehlten in der offiziellen Statistik gänzlich: Die Chronik dokumentierte für denselben Zeitraum 90 Übergriffe in Berlin.
Forderung: Besserer Schutz und konsequente Strafverfolgung
Rechte Gewalt muss zukünftig von den ermittelnden Behörden als solche benannt, grundsätzlich öffentlich gemacht und mit aller Konsequenz verfolgt werden. Die derzeitige Bagatellisierung wird weitere Täterinnen und Täter nicht abschrecken. Erst, wenn alle Angaben und Details öffentlich zugänglich sind, kann die dringend notwendige Debatte über Schutzmöglichkeiten und Gegenstrategien mit dem notwendigen Wissen geführt werden. Übergriffe auf Geflüchtete dürfen nicht länger verharmlost werden. Es mangelt nicht an Instrumenten der Strafverfolgung, die Paragraphen müssen nur konsequent angewandt werden. Gleichzeitig gilt: Das Problem heißt Rassismus. Um diesem strukturellen Phänomen gerecht zu werden, fordert die Amadeu Antonio Stiftung spezielle Ermittlungseinheiten für rassistisch-motivierte Gewalttaten jenseits des Staatsschutzes, eigene Staatsanwaltschaften für Hassverbrechen sowie präventive Schutzkonzepte.