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Ein Projekt des Magazins stern und der Amadeu Antonio Stiftung
Mit dieser Frage lud die Aussteigerinitiative EXIT zur Pressekonferenz in die Räumlichkeiten der Amadeu Antonio Stiftung ein. Gründer und Projektleiter Bernd Wagner, Anetta Kahane (Vorsitzende Amadeu Antonio Sitftung), Dierk Borstel (Rechtsextremismusforscher) und Gregor Gysi (Fraktionsvorsitzender Die Linke) thematisierten den gesellschaftlichen und politischen Umgang mit Aussteigern und Aussteigerinnen aus der rechtsextremen Szene. Mit dabei: Tanja Privenau, die von ihrem langen Weg des Ausstiegs aus der rechten Szene berichtete.
Von Naemi Eifler
Tanja Privenau hatte sich schon mit 13 Jahren der rechtsextremen Szene zugewandt. Der erste Versuch, 2002 aus der Szene auszusteigen, scheitert: Die Verantwortlichen des damaligen Verfassungsschutzes sind mit der Situation – eine Nazistin mit Kaderfunktion will mit mehreren Kindern aus der Szene aussteigen – überfordert und können die nötige Sicherheit nicht gewähren.
Erst 2005 gelingt es Tanja Privenau mit Hilfe der Aussteigerorganisation EXIT-Deutschland aus der Szene auszusteigen. Die von Privenau beschriebenen Hürden machen schnell klar: Es gibt noch einiges zu tun, wenn es darum geht, Ausstiegswillige überhaupt zu erreichen und angemessen zu unterstützen. Deutlich wird auch, dass Ausstiegskonzepte erst am Anfang stehen, vor allem auch, um auf die besondere Situation von ausstiegswilligen Frauen mit Kindern einzugehen. Immerhin, inzwischen ist die Wahrnehmung geschärft, die Suche nach Konzepten, die komplexen Lebenssituationen gerecht werden, hat begonnen.
Kreativwerkstatt des Nachdenkens
Anetta Kahane von der Amadeu Antonio Stiftung betont gerade die Wichtigkeit der Frage „Und dann?“. Denn wie ein Ausstieg erfolgreich gelingen kann, ist, neben der Frage der Unterstützung von Betroffenen rechter Gewalt, die wichtigste Aufgabe, die sich die Gesellschaft zu stellen hat. Als gelungenes Beispiel verweist Kahane auf die Arbeit der Ausstiegsorganisation Exit, die sie als „Kreativwerkstatt des Nachdenkens“ bezeichnet. Gerade zu Fragen, wie der Staat mit Rechtsextremismus umgeht und was es für einen Wiederanschluss an die Gesellschaft noch bedarf, vermag EXIT Antworten zu liefern. Mit Erfolg: Die nicht-staatliche Organisation begleitete seit dem Jahr 2000 insgesamt 513 Ausstiege. Nur 13 Personen sind zurück in die rechtsextreme Szene gelangt.
Bernd Wagner erläutert, dass es zunächst darum gehe, festzustellen, wie denn überhaupt der Umgang mit Rechtsextremismus stattfinde. Wagner betont, wie wichtig es sei, die Leute da abzuholen, wo sie in den „Strudel der Destruktion“ geraten. Er stellt klar, dass dies die Kipppunkte in den untersuchten Biografien von ausstiegswilligen Nazis sind, an denen man ansetzen müsse. Daher ist es so wichtig, den Moment von Zweifel in der Ideologie des/der Betroffenen überhaupt wahrzunehmen und Auffangmöglichkeiten zu bieten.
Hoffnung auf schnelle praktikable Lösung
Dass es an Auffangmöglichkeiten hapert, bemängelt auch Tanja Privenau. Der Wille zum Ausstieg aus der militanten Neonazi-Szene kam nicht plötzlich: Tanja Privenau verdeutlicht, sie habe 10 Jahre zum Reinkommen und 10 Jahre zum Rauskommen gebraucht. Rückblickend stellt sie fest, dass der Ausstieg „nicht ganz rund und glücklich“ gewesen sei und verweist auf das Unvermögen des Verfassungsschutzes Köln. Dieser war der komplexen Ausgangslage nicht gewachsen. Ihr selbst dagegen sei völlig klar gewesen, was es braucht: Eine neue Identität, ein Umzug und optimaler Weise etwas Geld, dass sie sogar selbst mitgebracht hat. Sie kritisiert die staatlichen Programme, die in der Theorie die Hoffnung auf eine schnelle, praktikable Lösung versprechen, die sie in der Praxis aber nicht bieten.
Privenau, die auf der Suche nach dem Schutz ihrer eigenen Person sowie ihrer Kinder bereits mehrere Bundesländer durchlief und immer wieder von ihrem gewalttätigen Ex-Mann aufgespürt wurde, zeichnet ein elendes Szenario: So hätten sich alle Bundesländer der Problematik der drohenden Verfolgung durch Nazis nicht angenommen. Im Allgemeinen gäbe es überhaupt keinen Konsens der Bundesländer im Hinblick auf Handlungskonzepte; Baden-Württemberg wies sie sogar zurück mit den Worten „Verschwinden Sie, wir können und wollen nicht helfen“. Dabei käme schnell die Frage auf, wer es überhaupt ernst meine. Exemplarisch verweist sie auch auf den Rat eines Verfassungsschutzmitarbeiters: „Vielleicht ist es doch besser, zurück in die Szene zu gehen“.
In ständiger Angst
Erschwerend findet sie auch die fehlende Kommunikation der Behörden untereinander. Dabei ist für Tanja Privenau klar: Kontakte zu einzelnen Politikern, Rechtsanwälten und die vor allem finanzielle Unterstützung der Amadeu Antonio Stiftung haben sie zwar gestärkt und waren nötig - für eine neue Identität braucht sie aber auch den Staat. Dieses auf vielen Ebenen zusammenarbeitende Gesamtpaket habe sie allerdings nicht bekommen. Immer wieder spürt der Ex-Mann Markus Privenau, weiterhin Aktivist der rechtsextremen Szene, den Aufenthaltsort auf. Wie? Zum Beispiel über die Sozialversicherungsnummer. Die ist nicht Teil einer neuen Identität.
Tanja Privenau und ihre Kinder müssen mehrmals unter Polizeischutz den neu gewählten Wohnort verlassen und umziehen. Eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Dresden bestätigt diese rechtlichen Defizite: Der Senat verkennt die Gefahrenlage und die damit verbundene akute Gefährdungssituation der Familie und gewährt im Juli 2012 dem Kindesvater das Recht auf Umgang. De facto verpflichtete dieses Urteil die Kindesmutter dazu, in persönlichen Kontakt mit Markus Privenau zu treten. Undenkbar, beschuldigt der Neonazi sie doch der Kindesentführung und dem Entzug der Kinder vor der nationalsozialistischen Ideologie. Völlig ignoriert wird in der Entscheidung des OLG Dresden, dass ein solcher Kontakt nicht zustande kommen kann, ohne dass die neuen Identitäten bekannt werden. Dieses gerichtliche Vorgehen verdeutlicht, dass Justiz und Behörden sich noch nicht genügend mit dem Thema Rechtsextremismus und Ausstieg befasst haben und verkennt somit auch die Lebensrealität einer Aussteigerin, die jeden Tag Angst davor haben muss, entdeckt zu werden.
Der Wendepunkt
Erst die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bringt den Wendepunkt: Dieses erkennt die Gefahrenlage der Familie: Der Senat stellt nach einer Verfassungsbeschwerde durch Tanja Privenau fest, dass die Mutter wegen ihres Ausstiegs aus der rechten Szene „strukturell und dauerhaft konkret gefährdet“ sei, gibt den Fall an das zuständige Amtsgericht zurück, welches dieser Argumentation folgt und das Umgangsrecht verwehrt. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist auch für zukünftige Entscheidungen in ähnlichen Rechtsfällen wegweisend: Der Ausschluss eines Umgangsrecht kann mit der Zugehörigkeit zu einer militanten gewaltbereiten Neonazi-Szene begründet werden. Bisher war dies nur möglich wenn eine akute „reale Gefahr“ bestand.
„Frau Privenau hat immer auch mein Herz berührt“
Privenau bedankt sich auch bei Dr. Gregor Gysi. Gerade nach ihrem Ausstieg hat sie den Fraktionsvorsitzenden der Linksfraktion im Bundestag als zuverlässigen Ratgeber für politische und rechtliche Hintergründe zu schätzen gelernt. „Frau P. hat immer auch mein Herz berührt“. Gysi hat Privenau bei zahlreichen Prozessen begleitet. Nicht als Anwalt, sondern als Unterstützung, „was manchmal wichtiger gewesen ist“, wie er betont. Gregor Gysi schildert eindrucksvoll, wie hürdenreich sich der Ausstieg für Privenau gestaltete. Er betonte, wie schwierig es gewesen sei, die Gerichte davon zu überzeugen, dass es bei der Einforderung des Umgangsrechts des Vaters vor allem immer auch um das Bekanntwerden der Identität und dem Aufenthaltsort seiner Ex-Frau ginge. „An möglichen Schritten wurde nichts ausgelassen“, so Gysi. Auch ein Asylgesuch in die USA habe man zwischenzeitlich erwogen.
„Organisierte Unverantwortlichkeit“
Dass Tanja Privenau beim Ausstieg schließlich erst bei EXIT maßgeblich die Unterstützung fand, die ihr die Verfassungsschutzbehörden verwehrte, zeigt das staatliche Versagen. Das hält auch Prof. Dr. Dierk Borstel, Professor für praxisorientierte Politikwissenschaften der demokratischen Kultur, fest und betont die Wichtigkeit verlässlicher Strukturen. Stattdessen habe sich eine Art „organisierte Unverantwortlichkeit“ etabliert. Militanter Rechtsextremismus kann nicht allein von bürgerlichen Initiativen bearbeitet werden. Was nötig und wichtig ist, sei ein Verbund zwischen staatlichen Institutionen und bürgerlichen Initiativen.
Kumpelei der Verantwortungslosigkeit
Auch Anetta Kahane stellt klar, dass die Gefahr des Rechtsterrorismus nicht unterschätzt werden darf. Wenn Menschen aus der militanten rechtsextremen Szene aussteigen möchten, jedoch keine wirksame Unterstützung finden, stimmt irgendwas nicht. Kahane hält dazu an, Fragen zu stellen: Was passiert mit Kinder in rechtsextremen Familien, wie gehen Schulen damit um? Hier müssen Handlungsstrategien entwickelt werden. Die Stiftungsvorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung hält fest: Rechtsextremismus ist kein Kinderspiel. Die Gesellschaft neige dazu, den NSU als „exotisch“ abzustempeln und verkenne dabei die tickende Zeitbombe. Rechtsextreme sind bewaffnet, das ist Realität. Dass das überhaupt nicht im Bewusstsein ist, benennt Kahane als Skandal und fordert eine Sozialmoral, die Haltung bezieht und klarstellt: „Wir akzeptieren keine Neonationalisten!“
Große Portion Eigeninitiative
Trotz der vielen Hürden möchte Tanja Privenau, die nun nach acht Jahren ganz langsam ein „normales Leben“ lebt, andere Frauen dazu ermutigen, den entscheidenden Schritt zum Ausstieg zu tun, auch und gerade für die Kinder. Was es dazu bedarf? Eine große Portion Eigeninitiative, eine Portion Kleingeld und Einrichtungen, an die man sich wenden kann, die wissen, was sie tun. Nichtstaatliche Organisationen haben bereits die Initiative ergriffen und arbeiten mit Wissenschaft und Medien zusammen. Nun ist es höchste Zeit, dass die Institutionen des Staates Verantwortung übernehmen.