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Mal schauen, was geht

Nur noch die NPD kümmert sich um die Bewohner der trostlosen Plattenbausiedlung in Hagenow. Und ein christlicher Streetworker.

Von Marion Kraske

Der Untergrund erinnert eher an einen Bolzplatz als an einen Rasen. Die steinerne Sitzgruppe ist von Moos überzogen, Abfall liegt überall auf dem Boden herum. Wenige Schritte weiter steht ein SB-Frischemarkt. „Isch tu gut“, steht mit roter Schrift auf einer Schaufensterscheibe. Fast könnte man meinen, dass die Zeit im Stadtteil Kiez im mecklenburgischen Hagenow seit Jahren stehen geblieben ist. Alles ist grau und unscheinbar.

Ein paar Meter entfernt stehen einige Kiez-Bewohner beisammen: Ein junges Ehepaar, zwei ältere Männer, der eine trägt Wollmütze und Tarnjacke, sein Kompagnon hat einen Händedruck wie ein Seefahrer. Ihre Blicke sind glasig, aus der Tasche schaut eine Bierflasche heraus. Es ist kurz nach elf – Zeit für den morgendlichen Nachbarschaftstreff. Regelmäßig kommen sie hier zusammen, vis-à-vis der Plattenbauten, in denen sie alle wohnen. Kein Bäcker, kein Café, kein Freizeittreff. Ihr Stammtisch ist die windstille Ecke vor dem SB-Markt.

Ein roter Transporter fährt auf dem Parkplatz vor, Volx-Mobil steht mit riesigen Buchstaben darauf. Ein Mann mit kurzem Haar und Brille springt heraus und geht auf die Gruppe zu: Thomas Ruppenthal von der Evangelischen Jugend Schwerin beginnt seinen „Hagenow“-Tag, wie er es nennt und gesellt sich zu der Runde. Eine eine Weile hört er den Geschichten aus der Platte zu. Dann sagt er: „Wir müssen uns demnächst treffen und schauen, was geht“.

Von der Gesellschaft entkoppelt

Schauen, was geht, das ist Ruppenthals Job. Mit seiner Kapuzenjacke und dem Daunenanorak sieht der 59-Jährige fast aus wie ein Jugendlicher. Ruppenthal ist Streetworker. Stadtteile wie Kiez in Hagenow, in Wittenberg oder Neustadt-Glewe sind sein Revier, genauer gesagt: die öden Plattenbauten. Zu DDR-Zeiten waren es beliebte Wohnviertel. Jetzt, mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Mauerfall, sind es prekäre Lebenswelten, die lediglich in den Armutsberichten der Sozialhilfeorganisationen vorkommen. Ein eigener Kosmos, entkoppelt vom Rest der Gesellschaft.

Ruppenthal versucht, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Ihre Bedürfnisse zu erkunden. „Wir wollen sie stärken und motivieren, damit sie wieder für ihre eigenen Belange eintreten.“ Der Ansatz kommt aus den USA und nennt sich Community Organizing. Ganze Stadtteile wurden damit neu belebt. Auch Barack Obama arbeitete früher in Chicago in heruntergekommenen Stadtteilen und half mit, Armenviertel aus der Abwärtsspirale von Verelendung und Verzweiflung wieder herauszuholen.

Straße ins Nirgendwo

Auch Ruppenthal will zusammen mit den Anwohnern neue Ideen entwickeln, Denkanstöße geben. Was braucht ihr, um euer Leben lebenswert zu machen?

Es geht um Menschen wie Jürgen. Er steht vor dem SB-Markt, einen Krückstock in der Hand. Ehemaliger Alkoholiker. Demnächst muss er ins Krankenhaus, die Prostata. „Früher“, sagt Jürgen und meint damit die DDR, „früher gab es hier wenigstens Kultur“. Konzerte. Tanz. Und heute? Heute hat Kiez für seine Bewohner nichts zu bieten. Die Menschen fühlen sich abgehängt, gefangen in der Trostlosigkeit der Umgebung, die immer mehr zum Spiegelbild ihrer eigenen Ausweglosigkeit wird. Viele von ihnen greifen regelmäßig zur Flasche. Auch andere Drogen sind im Umlauf, solche, die man zu Hause anrühren kann.

Langsam geht Ruppenthal durchs Viertel, die Straße des Friedens entlang, dann die Straße der Jugend, die Sportstraße – es sind öde Verbindungslinien, die ins Nirgendwo führen. Vorbei an Wohnkästen, vier Stockwerke hoch, an den Fassaden sprießen grüne Flecken. Einen neuen Spielplatz, immerhin, hat die Wohnungsbaugesellschaft aus dem Westen kürzlich errichten lassen. „Das ist es dann aber auch“, brummt Ruppenthal und man merkt, wie ihm die Verwahrlosung gegen den Strick geht. Er kann und will sich nicht damit abfinden, dass sich ein so reiches Land aus einigen Gegenden einfach zurückzieht.

Ruppenthal kennt die Verhältnisse seit Langem. Mehrere Jahre leitete er die Evangelische Jugend Schwerin, dann hängte er den Bürojob an den Nagel, wollte wieder näher an der Wirklichkeit sein. „Vergessene Stadtteile“ nennt Ruppenthal die Gebiete, in denen er unterwegs ist, in Beton gegossene Verwahranstalten an den Rändern der politischen und gesellschaftlichen Wahrnehmungsschwelle. Kaum ein Politiker verirrt sich hierher, nicht einmal zu Wahlkampfzeiten. Bis auf jene, die hier ihre Chance wittern: die NPD. Erfolgreich hat die rechtsextreme Truppe es in den vergangenen Jahren geschafft, sich als „Kümmerer-Partei“ zu etablieren. Mit Hartz-IV-Beratungsbüros und Kinderfesten hat die NPD im Nordosten an vielen Orten eine Rolle übernommen, die andere Parteien nicht mehr spielen können oder wollen. So ist es der Neonazi-Partei gelungen, sich nach und nach im Alltag der Menschen zu etablieren. Zum zweiten Mal zog die NPD im vergangenen Herbst in den Schweriner Landtag ein. Diesen Erfolg verdankte sich nicht zuletzt auch ihrer Bürgerarbeit.

Die Politiker der etablierten Parteien, glaubt Ruppenthal, haben dagegen das Interesse an den Menschen verloren. Man sehe doch, sagt er und zeigt auf die umstehenden Gebäude, „welch geringen Stellenwert der Bürger hier hat. Wer nichts mehr zum Bruttosozialprodukt beiträgt, muss damit rechnen, keine Rolle mehr zu spielen.“ Kein Beitrag zur Allgemeinheit, keine Infrastruktur. So einfach sei das.

Rund 2.500 Einwohner leben im Stadtteil Kiez. Es sind Menschen, die keine Wahl haben, die die Billigmieten gerade noch bezahlen können – Arbeitslose, Hartz-IV-ler, 1-Euro-Jobber, Spätaussiedler. Eine Kita, die „Europaschule“ und der SB-Frischemarkt – das ist alles, was es hier im Viertel gibt.

Es ist Donnerstag, 15 Uhr, Ruppenthal macht mit seinem Volx-Mobil am Spielplatz halt. Dann packen er und seine Helfer Boxhandschuhe, Bälle und Springseile aus. In Windeseile spricht sich ihre Ankunft herum. Einige Kinder spielen Brennball. Wer getroffen wird, muss raus aus dem Feld. Und in gewisser Weise gilt das auch im übertragenen Sinne für sie – denn sie sind raus dem Fokus der Stadtväter, aus dem Blickwinkel jener, die nur ein paar Kilometer entfernt in einer der eleganten Hagenower Villen wohnen oder in den schmucken Fachwerkhäuschen der Altstadt.

Hier, im Kiez stehen viele Wohnungen leer. In manchen Häusern ist nur noch eine einzige Einheit belegt, der Rest: Geisterwohnungen. Wer kann, sucht das Weite. Auch Annik will weg. Die 26-Jährige sucht einen Job als Altenhelferin. Gar nicht so einfach, sagt die junge Frau, die auf den ersten Blick viel älter wirkt. Hier gebe es eine Kinderbetreuung, aber keine Arbeit. Und in Hamburg, wo sie ein Jobangebot hatte, fehle die Kita, mit der sie als Alleinerziehende den Schichtdienst hätte meistern können. Gibt es eine Lösung für dieses Dilemma?

Annik versucht noch, aus ihrem Leben etwas zu machen. Die meisten Kiez-Bewohner haben dagegen aufgegeben. Die Wende brachte für sie keinen Gewinn, sondern nur den sozialen Abstieg. Von der Politik erwarten sie nichts. Dadurch werden sie anfällig für einfache Lösungen und Parolen. Sie werden anfällig für die NPD.

Schon Zehnjährige kommen zu Ruppen­thals Team und erzählen, dass sie „Schwarze hassen“. Der Sozialpädagogen wundert sich über solche Äußerungen schon lange nicht mehr. „Die Menschen hier sind so bedürftig, dass sie alles aufsaugen wie ein Schwamm.“ Sind sie erst einmal überzeugt von den Ideen, die die Gesellschaft in gute und nützliche Menschen einerseits und unnütze Menschen andererseits einteilen, ist es schwer, sie wieder zurückzuholen.

Überall altgediente Kader

Ruppenthal weiß, wovon er spricht. Sein Sohn war jahrelang in der rechten Szene aktiv. Damals, als die Familie noch in Karlsruhe lebte, kam der Sohn eines Tages mit weißen Schnürsenkeln an, in Neonazikreisen ein Symbol für Kampfbereitschaft. Er hörte Skinhead-Musik, traf sich mit schweren Jungs. Eine schwierige Zeit, sagt Ruppenthal und blickt zu den spielenden Kindern. Er habe versucht, das Gespräch aufrechtzuerhalten. Am Ende schaffte der Sohn den Absprung aus der rechtsradikalen Szene – wie sein Vater arbeitet auch er heute im sozialen Bereich.

Ruppenthal kommt aus einer christlichen Familie, sein Engagement für die sozial Schwachen ist weniger politisch als religiös begründet. Und doch hat Ruppenthals Optimismus in jüngster Zeit einen Dämpfer bekommen. Er sei zum „Systemkritiker“ geworden, bekennt er, und in seinen weichen Badener Akzent mischt sich ein bitterer Unterton. Ein System, das weite Teile seiner Bürger ausgrenze, sei ein Skandal. Die Politik übe sich in Feuerwehrmentalität: Erst wenn es brenne, rafften sich die Parteien auf, um einige Projekte anzuschieben, um die angespannte soziale Lage zu verbesseren. Ansonsten herrsche Ignoranz. „Wir haben es in den Verwaltungen mit altgedienten Kadern zu tun. Die sind nicht Teil der Lösung, sie sind Teil des Problems“, sagt er bitter.

Immerhin, in Neustadt-Glewe haben die Stadtväter erkannt, dass es der Arbeit von Ruppenthal und seinem Team zu verdanken ist, dass ein ganzes Problem-Viertel aufwertet wurde. Statt stundenlang vor dem Fernseher zu hocken, statt Gewalt und Missbrauch ausgesetzt zu sein, kommen die Kinder in das kleine Büro, das die Stadt inzwischen finanziell unterstützt. Hier können sie spielen und basteln, Geschichten hören. Auch die Eltern schauen ab und zu vorbei, trinken Tee, packen mit an, wenn es etwas zu tun gibt. Erstmals ist im Viertel so etwas wie Gemeinschaftsgefühl entstanden.

In Hagenow sind sie noch lange nicht so weit. Die Stadt ist nicht bereit, einen Anteil an den Kosten für eine Spielstätte zu tragen – trotz der geradezu lächerlich niedrigen Mieten in Kiez. Doch auch hier ist „der Thomas“ für die Kinder ein Held. Da macht es nichts, dass der Ort für Spaß und Begegnung einmal in der Woche aus einem zugigen Spielplatz besteht.

Am nächsten Tag steigt Ruppenthal mit einigen Kindern in den Zug nach Hamburg. Um ihnen zu zeigen, dass die Welt mehr zu bieten hat als Arbeitslosigkeit und Armut, stehen neuerdings Ausflüge auf dem Programm. Aufgeregt steht die elfjährige Jasmin wenig später an den Landungsbrücken und blickt mit großen Augen zu den Containerschiffen hinüber, die den Hafen ansteuern.

„Eigentlich ist es ganz simpel“, sagt Ruppenthal, „es geht darum, die Herzen der Menschen zu erreichen. Der Glaube, dass man ohne Personal und direkte Ansprache etwas bewirken kann, ist ein Irrglaube.“ Wenn die Gesellschaft es nicht schaffe, den Bürgern auch in Notlagen ein Mindestmaß an Respekt entgegenzubringen, so ist er überzeugt, laufe das System auf eine Katastrophe zu.

Dicke Eisschollen treiben vorbei, es ist kalt und windig. Die Hafenrundfahrt ist beendet, die Döner aufgegessen. Langsam macht sich die Gruppe auf den Weg zum Zug, der sie zurück in ihre Platte bringen wird. Dort, wo nach Aussage von Ruppenthal derzeit drei Weltanschauungen um die Deutungshoheit ringen: Nationalisten, Ewiggestrige und Christen. Noch ist nicht entschieden, wer das Rennen machen wird.
 
Wir danken der Autorin und der Tageszeitung „der Freitag“ für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung des Artikels.

Marion Kraske, studierte Politologin, ist freie Journalistin, Kolumnistin und Buchautorin. In ihrem 2009 erschienenen Buch „Ach Austria. Verrücktes Alpenland“ (Molden-Verlag) zeigt Kraske unter anderem die Problematik des geistigen Rechtsextremismus in Österreich auf. Sie ist außerdem Gründerin des Polit-Blogs www.debattiersalon.de.

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Plattenbau-Tristesse, Foto: Daniel Mott via flickr, cc