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Obwohl es auf gesetzlicher Ebene in den letzten Jahren zu einer Neubewertung der rechts motivierten Straftaten gekommen ist, scheint bis heute auf der Ebene der zuständigen Behörden ein entsprechender Bewusstseinswandel auszubleiben. Wie selbst kleine Initiativen hier etwas verändern können, zeigt das Beispiel des Initiativkreises Antirassismus aus Leipzig.
Von Marie Becker
Am 8. Mai 1996 wird der 43-jährige Bernd Grigol von drei Neonazis in der Nähe seines Hauses in Leipzig-Wahren ermordet. Mit den Worten „Hau ab, du schwule Ratte“ beginnt ein Gewaltexzess, der mit dem Tod des Kaufmanns aus Sachsen durch 36 Messerstiche endet. Vor dem Landgericht in Leipzig spielte die homosexuellenfeindliche Haltung der Täter keine Rolle. Die Neonazis Michael L., Rainer Sch. und David D. werden aufgrund ihrer „Lust an körperlicher Mißhandlung“ zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Bernd Grigol zählt damit in der offiziellen Statistik der Bundesregierung nicht zu den Opfern rechter Gewalt.
Sieben Jahre später wird im selben Stadtteil Leipzigs am Abend des 4. Oktobers der 16-jährige Thomas K. von dem Industrielehrling René M. mit einem Messer so schwer verletzt, dass er einige Stunden später in einem Krankenhaus seinen Verletzungen erlag. Vor Gericht gibt René M. an, dass ihm die Gespräche von Thomas K. mit seinen Freunden über Drogen nicht gefallen hätten und er daher einen von ihnen „aufklatschen“ wollte. In dieser Hinsicht sei er von seinen Freunden aus der rechten Szene „gut umerzogen“ worden. Auch hier wird die rechte Motivlage des Täters in der Urteilsbegründung nicht miteinbezogen. Erst die Bemühungen einer kleinen Initiative aus Leipzig führen 2015 zu einer Einstufung des Mordes an Thomas K. als rechts motivierte Straftat.
Reformen lassen Betroffene hoffen
An diesen zwei Beispielen vom staatlichen Umgang mit Opfern rechter Gewalt lässt sich sehr gut veranschaulichen, wo bis heute die Probleme bei der Einstufung von PMK-rechts Straftaten liegen. Obwohl 2001 der Gesetzestext zur Erfassung von rechten Straftaten grundlegend reformiert wurde, dringt diese Neuerung nur sehr langsam in die Praxis der Sicherheitsbehörden durch. Dabei schien die Änderung für viele Opferverbände vielversprechend. Damals wurde die Einstufung von politisch motivierten Straftaten neu definiert. Entscheidend ist seit diesem Zeitpunkt nicht mehr, ob die Tat als staatsfeindlicher Akt gegenüber der Bundesrepublik Deutschland eingestuft werden kann, sondern ob sich bei den Tätern eine antisemitische, rassistische oder sozialdarwinistische Motivlage erkennen lässt. Damit näherte sich die Bundesregierung der Definition des US-amerikanischen Straftatbestandes „Hate Crime“ an.
Es fehlt an Mut und Sensibilität
Soweit die Theorie. Auf der praktischen Ebene bescheinigen bis heute alle Einrichtungen betroffener Gruppen den staatlichen Behörden fehlende Sensibilität und fehlenden Mut, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in seinem ganzen Ausmaß anzuerkennen und dementsprechend zu verfolgen. Gestützt wird ihre Einschätzung von wissenschaftlicher Seite. So schreibt die Juristin Kati Lang in ihrer Studie zur „Vorurteilskriminalität“ im Hinblick auf das Verhalten des sächsischen Innenministeriums, dass die „Anerkennungspraxis der Behörden eher von Willkür als von maßgenauer Anwendung der Definition geprägt“ sei. Diese Willkür spiegelt sich auch in den zwei oben beschriebenen Fällen wider. So ist nicht nachvollziehbar, warum Thomas K. als Opfer rechter Gewalt anerkannt wird und Bernd Grigol nicht. Das Problem liegt hier in der fehlenden Auskunftspflicht der zuständigen Behörden. In diesem Zusammenhang kritisiert auch Kati Lang, dass „trotz konkreter Auflistung (…) die Anerkennung oder eine nähere Begründung der Nichtanerkennung in über der Hälfte der Todesfälle verweigert“ werde. Man müsse im Hinblick auf die Todesfälle rechter Gewalt von einer Blockadehaltung der Behörden sprechen.
Die verschwiegenen Toten
Mit dieser Blockadehaltung seitens der Behörden sahen sich auch die Mitglieder des Initiativkreises Antirassismus aus Leipzig konfrontiert. Der Initiativkreis stellte im letzten Jahr die Ausstellung „Die verschwiegenen Toten. Opfer rechter Gewalt in Leipzig seit 1990“ auf die Beine und dokumentierte darin auch die zwei oben beschriebenen Fälle. Die Idee zur Dokumentation dieser Fälle entstand als Reaktion auf die Ausstellung „Opfer rechter Gewalt seit 1990“. „Die Ausstellung gab für uns den Anlass, auch in Leipzig nachzuforschen, wie viele Opfer rechter Gewalt es jenseits der offiziellen Zahlen der Bundesregierung gibt“, so Steven Hummel, einer der drei Gründer des Initiativkreises. Als Quellen blieben ihnen häufig nur Zeitungsartikel, da die zuständigen Behörden nicht bereit waren, mit Informationen weiterzuhelfen. Durch ihre Recherchen entdeckten sie vor allem im Umfeld von Wohnungslosen eine hohe Dunkelziffer: Unter den Todesopfern rechter Gewalt gibt es sehr viele Obdachlose. Aufgrund ihrer Lebenssituation und den Stigmatisierungen, denen sie im Alltag ausgesetzt sind, sind sie besonders gefährdet, Opfer rechter Gewalt zu werden. Erschwerend hinzu kommt, dass sich diese Stigmatisierungen oft bis in die Ebenen der strafrechtlichen Behörden fortsetzen. Dort werden sie häufig gar nicht erst als Opfer rechter Gewalt wahrgenommen, sondern selbst für den Angriff verantwortlich gemacht. Auch Personen, die aufgrund ihrer Homosexualität angegriffen werden, müssen immer wieder erleben, dass sie von staatlichen Behörden nicht ernst genommen werden. Nicht selten müssen sich die Betroffenen oder Angehörigen der Opfer anhören, dass sie sich eben nicht in der Öffentlichkeit küssen sollen oder dass man eben nicht nachts auf einer Parkbank schläft.
Durch eine kleine Anfrage kommt einiges ins Rollen
Die Mitglieder des Initiativkreises Antirassismus weiteten 2010 ihre Aktivitäten aus. Anlass gab das Verfahren im Falle Kamal K. vor dem Leipziger Landgericht. Auch hier zeichnete sich erneut ab, dass trotz eindeutiger Hinweise, die Polizei und Justiz nicht an einer Aufklärung der politischen Motivation der Täter interessiert waren. Steven Hummel und seine Mitstreiter beschlossen daraufhin, die Familie Kamal K.s zu unterstützen und dem Prozess so viel Öffentlichkeit wie möglich zuteilwerden zu lassen. Doch am Ende urteilte das Gericht, dass kein rassistisches Motiv vorläge. Erst als 2011 die Morde des NSU aufflogen, wurde der Fall Kamal K. im Zuge der bundesweiten Nachprüfungen als PMK-rechts eingestuft. „Wir haben daraufhin auch noch einmal bei den anderen Fällen, die wir recherchiert hatten, nachgehakt. So haben wir nach und nach alle Fälle als kleine Anfragen der Linken von der sächsischen Landesregierung überprüfen lassen. Anfang 2015 wurde dann auch für uns überraschend der Fall Thomas K. als Opfer rechter Gewalt eingestuft“, berichtet Steven Hummel. Als Grund für die bisherige Einstufung verwies das sächsische Innenministerium darauf, dass sich die Motivlage des Täters erst aus dem Urteil ergab, was der Polizei nicht bekannt gewesen sei. Und tatsächlich ist die Polizei bei ihrer Zählung von rechten Gewalttaten nicht verpflichtet, die Urteilsbegründung miteinzubeziehen. Zu Recht kritisiert Kati Lang, dass durch diese Lücke in der Registrierung von PMK-rechts, das Ausmaß rechts motivierter Straftaten in den statistischen Zahlen der Polizei gar nicht widergespiegelt werde. Als Konsequenz empfiehlt sie die Einrichtung einer unabhängigen Expertenkommission, die alle alten Fälle noch einmal neu untersucht.
Die schweigende Mehrheit
Steven Hummel vom Initiativkreis Antirassismus sieht in der Begründung des Innenministeriums einen weiteren Beleg für die Ignoranz der Behörden gegenüber der Dimension von PMK-rechts. Bis heute interessieren sich die strafrechtlichen Behörden nicht für die politische Motivation, was sich sowohl negativ auf den Umgang mit den Opfern als auch auf die Prävention solcher Taten auswirke. Zudem betont Hummel die Verantwortung des sozialen Umfeldes, in denen diese Taten häufig erst möglich werden. Viele teilen die Ressentiments der Täter, wodurch der Schutz der Opfer noch schwieriger werde. Erinnerungsarbeit für Todesopfer rechter Gewalt müsse daher auch gesellschaftliche Debatten anstoßen, in denen die Morde in einem breiteren Kontext betrachtet und die Verantwortung der verschiedenen gesellschaftlichen Akteure thematisiert werden. Erst wenn anerkannt wird, dass in unserer Gesellschaft ein geistiger Nährboden für gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit existiert, ist es möglich Fälle, wie die von Thomas K. und Bernd Grigol, zu verhindern.