Sie sind hier

Naziüberfall in Mittweida nur vorgetäuscht? Die 17-jährige widerspricht. Staatsanwaltschaft schiebt Schuld auf Polizistin.

Knapp vier Wochen nach der Aufsehen erregenden Bekanntgabe eines Neonazi-Überfalls auf eine 17-Jährige in Mittweida (Sachsen) haben Polizei und Staatsanwaltschaft Chemnitz den Rückwärtsgang eingelegt. Bisher war von vier Tätern die Rede gewesen, die der jungen Frau ein Hakenkreuz in die Hüfte geritzt haben sollen. Nun wird auch gegen die junge Frau wegen der Möglichkeit des Vortäuschens einer Straftat ermittelt. Das Opfer aber widerspricht. Der Vorfall war am 23. November von Polizei und Staatsanwaltschaft als sichere Tatsache vermeldet worden.

Von Albrecht Kolthoff und Olaf Meyer

Insbesondere zwei Angaben der Behörden ließen kaum Zweifel an den mitgeteilten Vorgängen: Ein sechsjähriges Kind, das von den Neonazis bedrängt worden sei, habe den Hergang bestätigt, darüber hinaus hätten Rechtsmediziner ausgeschlossen, dass sich die junge Frau die Verletzung selbst zufügte.

Offenbar stimmte jedoch gerade an diesen beiden Angaben nicht viel. Am Dienstag (18.12.) gab die Chemnitzer Staatsanwaltschaft der Geschichte eine Kehrtwendung: Demnach hat die Mutter des sechsjährigen Kindes später nach der ersten behördlichen Bekanntmachung erklärt, ihr Kind könne gar nichts bestätigen, weil es zum Zeitpunkt des angeblichen Vorfalls gar nicht in Mittweida gewesen sei. Ob die 17-Jährige vielleicht einem anderen Kind zu Hilfe gekommen war, bleibt offen: Jedenfalls haben die Ermittler kein Kind finden können, das tatsächlich die Angaben bestätigen könnte.

Eine weitere Umkehrung der bisherigen Aussagen präsentierte die Staatsanwaltschaft mit zwei rechtsmedizinischen Gutachten, die inzwischen vorlägen. Hatte es anfangs noch geheißen, eine Selbstverletzung der jungen Frau könne rechtsmedizinisch ausgeschlossen werden, so wird sie jetzt "zumindest nicht ausgeschlossen".

Die 17-jährige widerspricht

Die 17-Jährige bleibe allerdings bei ihrer Aussage, dass sie einem Kind zur Hilfe geeilt sei und ihr dann die Männer das NS-Symbol in die Haut ritzten, sagte Polizeisprecher Frank Fischer am Mittwoch (19.12.) und betonte: „Wir ermitteln in alle Richtungen“.
Die Polizei versuche nun vor allem, das Kind, dem die junge Frau zur Hilfe geeilt sein will, zu finden. Laut Polizei könne es sein, dass die bisher befragte Kleine tatsächlich von Männern geschubst wurde und ihr eine Frau geholfen hatte - aber nicht an jenem Abend auf dem Parkplatz des Supermarktes in Mittweida.

Auf einen Kommunikationsfehler innerhalb der Polizei führte Fischer die im November unter Berufung auf Rechtsmediziner gemachte Angabe zurück, wonach sich die Jugendliche die Hakenkreuz-Verletzung nicht selbst zugefügt haben könne. Eine Rückversicherung sei ausgeblieben.

Fischer wollte sich nicht dazu äußern, ob die Polizei in diesem Fall zu sensibel reagiert habe. Die Beamten hätten angesichts von vorgetäuschten Straftaten mit rechtsextremem Hintergrund den Hergang kritisch geprüft. Zum Ermittlungsstand vor etwa einem Monat, als die Polizei den Fall öffentlich machte, seien die Angaben der Jugendlichen weitgehend glaubwürdig erschienen. „Hätten wir die Aussagen der 17-Jährigen nicht ernst genommen, hätte es geheißen, die Polizei sei auf dem rechten Auge blind.“ Das sächsische Innenministerium wollte den Vorgang zunächst nicht kommentieren und erst den Abschluss der Ermittlungen abwarten. Vor Abschluss der Untersuchungen feiern Neonazis in dessen im Internet ein "zweites Sebnitz" (siehe stern.de, 19.12. ).

"Übermittlungsfehler" und "Suggestivfragen"

Wie es zu den Falschmeldungen kam, versuchte Oberstaatsanwalt Bernd Vogel zunächst gegenüber Spiegel online zu erklären. Am 23. November habe schließlich keines der rechtsmedizinischen Gutachten vorgelegen, und die Mitteilung von einem "Rechtsmediziner", der eine Selbstverletzung ausgeschlossen habe, sei "offensichtlich ein Übermittlungsfehler" gewesen. Die als sichere Bestätigung bekannt gegebene Aussage des sechsjährigen Kindes sei möglicherweise auf "Suggestivfragen" zurückzuführen, auf die das Kind "entsprechend geantwortet" habe, obwohl bei der Befragung eine Psychologin anwesend war.
Kurz vor Weihnachten präzisierte die Staatsanwaltschaft ihre Analyse und schob die Schuld einer Polizistin zu. Eine „etwas übermotivierte“ Polizei-Beamtin habe den Inhalt einer Besprechung falsch verstanden und im Polizeirevier Mittweida verkündet, die gerichtsmedizinische Untersuchung stütze die Version des Mädchens, sagte Oberstaatsanwalt Bernd Vogel dem Nachrichtenmagazin „Focus“. Diese Behauptung sei dann in der Öffentlichkeit verbreitet und als Bestätigung für den Tathergang gewertet worden.

Um das verwirrende Hin und Her vollends ausgewogen zu gestalten, erklärte Oberstaatsanwalt Vogel, dass trotz der neuen Erkenntnisse auch weiterhin ein Neonazi-Überfall denkbar sei. Und so ermittelt die Staatsanwaltschaft ab jetzt in zwei Richtungen: einerseits wird gegen die 17-Jährige wegen des Verdachts des Vortäuschens einer Straftat ermittelt, andererseits laufen auch die Ermittlungen gegen die vermeintlichen Täter weiter.



Ermittlung wegen schlechten Bildes der "Bevölkerung"?

Gegen die 17-Jährige wird nach Angaben der Staatsanwaltschaft auch deshalb ermittelt, weil der wohl falsche Eindruck entstanden sei, dass Teile der Mittweidaer Bevölkerung nicht über genügend Zivilcourage verfügten. Die Strafverfolger sprachen in dem Zusammenhang von einem "Gebot der Fairness". Trotz der Auslobung einer Belohnung von 5.000 Euro hatten sich keine Zeugen gemeldet, die den Vorfall bestätigen hätten können; das Ausbleiben solcher Aussagen war vielfach als "mangelnde Zivilcourage" angeprangert worden.

"In Misskredit" sei die Stadt Mittweida durch den Fall geraten, sorgte sich heute der neue Beauftragte des Bürgermeisters für Extremismusbekämpfung, Udo Göckeritz. Bürgermeister Matthias Damm (CDU), der mehr als 100 Briefe an Anwohner mit der Bitte um Aussagen verschickt hatte, zeigte sich heute einerseits erleichtert: "Wir sind aber - wie oft dargestellt - keine Nazi-Stadt", blieb aber dabei, dass die Stadt "ein Rechtsextremismus-Problem" habe.

Tatsächlich hatten in der Region um Mittweida seit 2006 rechtsextreme Übergriffe massiv zugenommen, vor allem durch die Aktivitäten der Neonazi-Kameradschaft Sturm 34. Die Truppe wurde zwar vom sächsischen Innenminister im April dieses Jahres verboten, doch auch nach dem Verbot kam es weiter zu einschlägigen Auftritten und Gewalttaten aus dem Dunstkreis der verbotenen Gruppe.

Justiz: Bilanzen und Pleiten

Doch die Justiz tut sich bislang schwer mit der Bearbeitung des Sturm 34. Ende November hatte das sächsische Justizministerium noch eine positiv gestimmte Zwischenbilanz veröffentlicht, doch diese konnte die Serie der Pleiten und Pannen bei der praktischen Rechtsprechung nicht verdecken. Erst gestern musste ein leitender Staatsschutz-Polizist in einer Gerichtsverhandlung in Chemnitz einräumen, dass ein Tatverdächtiger eineinhalb Jahre lang nicht als Beschuldigter, sondern lediglich als Zeuge geführt worden war.

Dazu kam noch ein peinliches Hin- und Hergeschiebe von drei Anklagepunkten im Prozess gegen Tom Woost, der als Anführer des Sturm 34 gilt. Das Amtsgericht Chemnitz hatte diese Anklagepunkte, bei denen es um Überfälle auf einen Studenten aus Kamerun und das Café Courage in Döbeln geht, vom laufenden Prozess abgetrennt und - zuständigkeitshalber - an die Staatsschutzkammer des Landgerichts Dresden verwiesen. Doch dort sah man sich ebenfalls nicht zuständig und schickte die Anklagen zurück. Das Oberlandesgericht Dresden musste heute über den Verbleib der Strafsachen entscheiden: Nun ist wieder das Amtsgericht Chemnitz am Zuge. Dort wird nun also über Strafen für den mutmaßlichen Sturm 34-Anführer entschieden - und vielleicht auch über eine 17-Jährige, die der Stadt zu zweifelhafter Bekanntheit verholfen hat, indem sie möglicherweise einen Vorfall erfunden hat, dessen Hintergründe jedoch alles andere als fantasiert sind


Der jüngste Stand: (Sächsische Zeitung 20.12.) >klick
Nazipropagandisten frohlocken: (stern.de 19.12.): >klick
Der Beitrag im Original auf redok.de (18.12.): >klick
Über die erste Reaktion in Mittweida (Sächsische Zeitung 19.12.) >klick

Das Titel-Foto entstand angeblich im Frühsommer 2007 in der Rochlitzer Straße in Mittweida . Quelle: medienschlampen.com.>klick
Was tun gegen Rechtsextremismus? Drei Fragen von MUT an Sachsens Ministerpräsident Milbradt >klick


www.mut-gegen-rechte-gewalt.de / kulick

abendsinmw-klein.jpg

Motorrad fährt durch Mittweida, einer der beiden fahrer hält eine Reichsflagge und zeigt den Hitlergruß