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Jeder vierte Deutsche möchte die Zuwanderung von Muslimen nach Deutschland stoppen. Besonders unter den Besserverdienenden nimmt die Islamfeindlichkeit zu. In Berlin wurde die 9. Folge des Reports „Deutsche Zustände“ der Öffentlichkeit vorgestellt.
Von Christian Müller
„Wir blicken auf ein Jahrzehnt zurück, das durch zahlreiche gesellschaftliche Vergiftungen gekennzeichnet ist“, resümiert Wilhelm Heitmeyer. Er ist Leiter eines Projekts des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld, das seit 2002 in einer Langzeitstudie den Umgang der Mehrheitsgesellschaft mit Minderheiten in Deutschland untersucht. Weltweit ist es das größte Vorurteilsprojekt. Jährlich werden die Ergebnisse in dem Report „Deutsche Zustände“ publiziert. 2000 Personen wurden im Mai und Juni dieses Jahres befragt. Nun wurde der Bericht für 2010 am 3. Dezember in Berlin der Öffentlichkeit präsentiert. Wie auch im vergangenen Jahr stellt die aktuelle Studie die Frage nach den Auswirkungen der gefühlten Bedrohung durch die Wirtschaftskrise auf Einstellungen zu schwachen Bevölkerungsgruppen. Besonderen Fokus legte das Forscherteam in diesem Jahr auf die Einstellungsmuster der Einkommenselite. Vor allem in dieser Gruppe verlieren Normen der Zivilität und Toleranz an Einfluss, so das zentrale Ergebnis der Studie. Hintergrund dieser Entwicklung sei eine „Vereisung des sozialen Klimas“ sowie eine „rohe Bürgerlichkeit“, interpretiert Heitmeyer die Befunde. Vor allem, weil die Umfragen noch vor der Sarrazin-Debatte durchgeführt wurden, geben die Ergebnisse Anlass zur Sorge.
Einstellungen nur schwer zu ändern
Die Bedrohungswahrnehmung hat zwischen 2009 und 2010 weiter zugenommen. Fühlten sich im vergangenen Jahr noch 47 Prozent der Befragten von der Wirtschaftskrise bedroht, so stieg der Anteil in diesem Jahr auf 53 Prozent. Für die Beurteilung von Minderheiten bleibt dies nicht ohne Folgen. Zwar haben die Ressentiments in der Gesellschaft gegenüber obdachlosen Menschen, Menschen mit Behinderung und Langzeitarbeitslosen nicht zugenommen und auch die Ausmaße von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus bleiben seit 2002 auf hohem Niveau stabil. Zudem sind das Ausmaß von Sexismus und die Abwertung homosexueller Menschen seit 2005 leicht rückläufig. Dies zeige aber, wie schwer es sei, Einstellungen die einmal vorhanden sein, zu verändern, so Beate Küpper, Projektmitarbeiterin, auf der Pressekonferenz.
Islamfeindlichkeit nimmt zu
Ein signifikanter Anstieg gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit offenbart sich allerdings in den Bereichen Etabliertenvorrechte, Islamfeindlichkeit und dem israelbezogenen Antisemitismus. „Der Boden war bereitet, der hinterher abgeräumt wurde“, erklärt Beate Küpper im Hinblick auf die Sarrazin-Debatte. So stimmen 37,7 Prozent der Befragten der Aussage „Wer schon immer hier lebt, sollte mehr Rechte haben, als die, die später zugezogen sind“ zu. 26,1 Prozent der Befragten wollen Musliminnen und Muslimen generell die Zuwanderung nach Deutschland verbieten und 57 Prozent der Befragten fanden, dass Israel einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser führe.
Besonders erschreckend: Die Vorurteile bahnen sich zunehmend dort einen Weg, wo man sie eigentlich nicht erwartet hätte. Traditionell sind sie nach wie vor bei den politisch Rechten am höchsten ausgeprägt. Am stärksten angestiegen hingegen ist die Islamfeindlichkeit bei denjenigen, die sich politisch links oder in der Mitte einordnen.
Rohe Bürgerlichkeit
Auch wer bislang der Ansicht war, dass vor allem sozial Schwache verstärkt zu Vorurteilen neigen, muss sich durch die Studie eines Besseren belehren lassen. Besonders in den höheren Einkommensgruppen (ab 2500 Euro pro Kopf) nimmt die Zustimmung zu Etabliertenvorrechten und Islamfeindlichkeit drastisch zu. Insgesamt machen diese zwar nur 20 Prozent der Bevölkerung aus. Aufgrund ihrer höheren Bildung und ihrer beruflichen Positionen können sie aber entscheidenden Einfluss auf das politische und gesellschaftliche Klima ausüben. „Gnade durch Wohlhabende und Selbstverantwortung der sozial Schwachen“ sei das maßgeblich Credo dieser neuen „rohen Bürgerlichkeit“, so Heitmeyer. Ehemals zivilisierte, tolerante und differenzierte Einstellungen weichen reaktionären Verhaltensweisen. Einher damit geht vor allem auch die Abwertung von Langzeitarbeitslosen durch Höherverdienende da im Zuge der fortschreitenden Ökonomisierung des Lebens, Menschen zunehmend ausschließlich nach ihrer wirtschaftlichen Nützlichkeit beurteilt werden. Dass Vorurteile und Abwertungen gerade in der Bevölkerungsgruppe steigen, die bisher eher für liberale und humane Normen stand, birgt die Gefahr der „Vereisung des sozialen Klimas“, prognostiziert Heitmeyer.
Die Studie: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.): Deutsche Zustände, Band 9, Suhrkamp, Berlin 2010
Foto: ngn