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BKA sieht "reale Bedrohung"

Vier antisemitische Straftaten pro Tag und  fünf gravierende Gewalttaten pro Monat mit antisemitischem Hintergrund. Diese "mahnenden Zahlen fordern zum Handeln auf" sagte am Mittwoch der Präsident des Bundeskriminalamts Jörg Ziercke bei der Eröffnung der diesjährigen Aktionswochen gegen Antisemitismus in der Amadeu Antonio Stiftung in Berlin. Bundesweit finden dazu ab heute in mehr als 170 Orten 400 Veranstaltungen statt. Somit ist dies die größte bundesweite Kampagne gegen Antisemitismus.

Beteiligte Initiativen setzen sich in Gedenkveranstaltungen, Theater- und Filmaufführungen, Zeitzeugengesprächen und Lesungen mit historischem und aktuellem Antisemitismus auseinander. So präsentiert in Stadthagen das Projekt „für demokratie courage zeigen“ eine Ausstellung zum aktuellen Antisemitismus, diskutiert eine Tagung der Fachhochschule Hannover den „Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft“, ein „Denk Ort“ an der ehemaligen Synagoge in Halberstadt wird an die Öffentlichkeit übergeben, in Brandenburg werden Jugendliche bei einem Workshop der Stiftung Begegnungsstätte Gollwitz einen handyfähigen Videoclip gegen Antisemitismus und gegen Gewalt erstellen und in Döbeln werden Stolpersteine verlegt.

Auf der Pressekonferenz zum Start der Aktionswochen begrüßten der Generalsekretär des Zentralrats der Juden, Stephan Kramer, und der Präsident des Bundeskriminalamts, Jörg Ziercke die Aktionswochen als eine besondere Form der Präventivarbeit gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus. Solche Initiativen hälfen, Menschen zu sensibilisieren genauer auf das hinzuschauen, was passiert und sich dagegen zu wehren. Die Notwendigkeit dazu sei groß.

Jörg Ziercke
Jörg Ziercke

Ziercke (Foto oben) bezeichnete die Zahl der erfassten antisemitischen Straftaten als eine "reale Bedrohung für bestimmte Menschen und für die Gesamtgesellschaft". Antisemitisch und rassistisch handelnde Gewalttäter beschädigten das Ansehen der Bundesrepublik und seien "eine Schande für Deutschland". Im Jahr 2007 habe die Polizei 1561 antisemitisch motivierte Delikte erfasst, bundesweit würden nach wie vor vier antisemitische Straftaten am Tag gemeldet. Die Zahl von Propagandadelikten sei zwar leicht rückgängig, nicht aber die Zahl von Friedhofsschändungen und schwerer Gewalttaten. Deren Zahl betrage etwa fünf pro Monat. Zur Aufklärungsquote konnte oder wollte Ziercke nichts sagen. Das Tatmuster verlaufe oft gleich:

Zumeist seien es junge Rechtsradikale, die durch einen Wortwechsel oder eine Pöbelei gezielt Streit  mit ihren Opfern suchten und die Situation dann eskalieren ließen, oft unter Alkoholeinfluss. Beunruhigend sei die Zunahme der Gewaltbereitschaft unter den sogenannten Autonomen Nationalisten. Aber auch die Zahl der von Palästinensern in Deutschland verübten antisemitischen Straftaten nehme zu. Für Rechtsextreme sei vor allem Musik identitätsstiftend und das Internet werde bevorzugt als Kommunikations- und Handelsnetz genutzt. Daher habe die Polizei ihre Arbeit auf diesem Feld besonders intensiviert, suche Kooperationen im Ausland, zum Beispiel mit Tschechien und stärke gezielt die Zusammenarbeit mit Akteuren im Internet, zu denen auch ebay gehöre, um dem Angebot von dort offerierten neonazistischen Tonträgern Herr zu werden.

Leider würden längst nicht alle Taten angezeigt, beklagte Ziercke und es gebe "keine Schätzung für das  Dunkelfeld".  Aber keineswegs sei die Polizei "auf dem rechten Auge blind". Stephan Kramer vom Zentralrat der Juden relativierte das. "Schwarze Schafe" gebe es schon, zum Beispiel bei der Polizei in Sachsen-Anhalt.


Stephan Kramer (m.) lobte die "beherzte Arbeit " der in einem Monat 10 Jahre alt werdenden Amadeu Antonio Stiftung, solche Themen nicht nur öffentlich zu machen, sondern auch "auf der Klein-Klein-Ebene" mit ganz praktischer Hilfe für Projekte tätig zu sein. Einen Grund sich bei der Arbeit gegen Rassismus und Antisemitismus zurückzulehnen, sehe er derzeit nicht. Antisemitismus sei eine ständige Herausforderung, die sich seit 2000 Jahren ständig neue Masken suche.

Kramer begrüßte bei dieser Gelegenheit den Entschluss, den der Bundestag am Vorabend getroffen habe, Antisemitismus entschlossen zu bekämpfen. "Die Begleitumstände sind allerdings alles andere als schön", betonte er und übte deutliche Kritik am Verhalten der Unions-Fraktion, die eine gemeinsame Entschließung verhindert hatte, weil sie darauf bestand, die Fraktion der Linken außen vor zu lassen. Dies sei "ein Possenspiel aus der antikommunistischen Hexenküche, dessen Gewinner feststehen: Nazis und Antisemiten aller Couleur", die sich darüber freuen könnten, dass die Union die demokratische Koalition gegen Rechtsextremismus habe platzen lassen. (Siehe separaten MUT-Bericht).

Auch die Stiftungsvorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung, Anetta Kahane (l.), kritisierte diese verpasste Chance im Bundestag. Hier werde ein "unerträgliches Ping-Pong-Spiel" auf dem Rücken der Opfer gespielt. (Siehe auch Streitgespräch in der taz vom 5.11.). Kahane appellierte an die politischen Parteien, die politischen Konsens gegen Rechtsextremismus am 13. und 14.2.2009 nicht ein weiteres Mal aufs Spiel zu setzen.  An diesem Tag  wollen wieder mehrere tausend Neonazis in Dresden aufmarschieren, um der Opfer des Luftangriffs auf Dresden zu gedenken. Kahane schlug vor, eine Veranstaltung durchzuführen, um der Opfer zu gedenken, aber auch um daran zu erinnern, wie es zu dem Krieg gekommen sei.

Stephan Kramer kritisierte auch, dass nur symbolisch erwogen worden sei, einen Antisemitismusbeauftragten zu schaffen. Jetzt gebe es nur ein Expertengremium, das absehbar wieder nur einen von vielen Berichten abheften werde. Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Rechtsextremismus seien überdies in ihrer ganzen Bandbreite entschlossen zu bekämpfen. Nunmehr  geschlossen Einsatz nur auf dem Feld der Antisemitismusbekämpfung zu zeigen, sehe zu sehr nach einer "Extrawurst für die Juden" aus. Das wolle er nicht.

Totale der Pressekonferenz
Totale der Pressekonferenz

Zum Hintergrund der diesjährigen Aktionswochen veröffentlichte die Amadeu Antonio Stiftung folgende Erklärung:

"Am 9. November vor 70 Jahren kam es in ganz Deutschland zu unzählbaren Gewalttaten gegen jüdische Menschen und Einrichtungen. Der Aufschrei gegen die Pogromnacht blieb aus — keine Proteste dagegen, keine öffentlichen Diskussionen fanden statt. Heute gibt es, wie auch die jüngste Debatte dazu im Bundestag zeigt, einen Konsens darüber, dass Antisemitismus nicht nur eine Gefahr für Jüdinnen und Juden ist, sondern auch für die Demokratie. Dennoch bleibt die Problematik des Antisemitismus dringend aktuell:

Ob in Schöneiche bei Berlin oder in Berlin-Charlottenburg: letzte Woche wurden Menschen -- weil sie als jüdisch erkennbar waren oder einfach mit Juden assoziiert wurden -- antisemitisch beleidigt, beschimpft, bedroht. In Hamburg wurden gar muslimische Grabsteine mit Davidsternen, anti-muslimischen Beschimpfungen, und Hakenkreuzen beschmiert. Bundesweit und kontinuierlich geschehen Schändungen von jüdischen Friedhöfen und Beschädigungen von Denkmälern, die an die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus erinnern. 2007 zählte der Verfassungsschutzbericht 1.541 antisemitische Straftaten, darunter 59 Gewalttaten. Von Januar bis September dieses Jahres hat die Polizei bundesweit nahezu 800 antisemitische Straftaten festgestellt."

Zwei Schülerinnen neben Anetta Kahane
Zwei Schülerinnen neben Anetta Kahane


Jona Schapira (Bild m.), eine Schülerin der Martin Buber Oberschule in Berlin stellte am Ende noch ein besonderes Aktionswochenprojekt vor. Ihre Mitschülerinnen und Mitschüler haben die lokale Geschichte von Judenverfolgung und aktuellem Antisemitismus in ihrem Heimatbezirk Spandau dokumentiert und eröffnen hierzu am Nachmittag eine Ausstellung - in einem mobilen Bus, der von Schule zu Schule fährt. 'Abgefahren' heißt die sehenswerte Initiative. "Wir können nicht damit rechnen, dass die Leute zu uns kommen, sagte die Schülerin. "Also kommen wir zu ihnen".

Zuschauer
Zuschauer

An den Aktionswochen beteiligen sich dieses Jahr über 170 Organisationen, die mehr als 400 Veranstaltung durchführen. Die Zahl der Teilnehmer und Veranstaltungen ist in den vier Jahren des Bestehens der Aktionswochen stetig größer geworden und konnte im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt werden.

Mit ihren Veranstaltungen tragen die beteiligten Initiativen  zum Ziel der Aktionswochen gegen Antisemitismus bei, auf gegenwärtige und historische Erscheinungsformen des Antisemitismus aufmerksam zu machen und öffentliche Diskussionen über das Thema anzuregen.

  Alle bislang gemeldeten Veranstaltungen im Rahmen der Aktionswochen finden Sie hier:

Baden-Württemberg Niedersachsen
Bayern Nordrhein-Westfalen
Berlin Rheinland-Pfalz
Brandenburg Saarland
Bremen Sachsen
Hamburg Sachsen-Anhalt
Hessen Schleswig-Holstein
Mecklenburg-Vorpommern Thüringen


Drei Helfer und Helferinnen mit Aktionswochen-Plakat
Drei Helfer und Helferinnen mit Aktionswochen-Plakat

Auch zum Thema:

Bislang 800 antisemitische Vorfälle
2008 (http://www.mut-gegen-rechte-gewalt.de/news/meldungen/2008-mehr-als-800-a...)

Uneiniger Entschluss im Bundestag zum Thema Antisemitismusbekämpfung (http://www.mut-gegen-rechte-gewalt.de/news/meldungen/antisemitismus-erkl...)

www.mut-gegen-rechte-gewalt.de / Fotos: Kulick / hk