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Ein Projekt des Magazins stern und der Amadeu Antonio Stiftung
Seit Jahren beklagt die Amadeu Antonio Stiftung die große Diskrepanz zwischen der Zählung von Todesopfern rechter Gewalt von staatlichen Behörden und von unabhängigen Organisationen sowie Journalistinnen und Journalisten. Wo von der Bundesregierung lediglich 109 Tötungsdelikte als rechts motiviert gewertet werden, ergeben Recherchen der Amadeu Antonio Stiftung eine weitaus höhere Zahl: Mindestens 208 Todesopfer rechter Gewalt seit dem Wendejahr 1990 sowie 13 weitere Verdachtsfälle.
Von Anna Brausam
Forderungen der Zivilgesellschaft an die Bundesregierung den großen Unterschied bei der Anzahl der Todesopfer rechter Gewalt zu erklären, blieben lange ungehört. Auch Anfragen von Oppositionsparteien zur erneuten Überprüfung von „Altfällen“ liefen stets ins Leere, wie eine Bundestagsdrucksache 17/7161, S.21 vom September 2011 zeigt: In dieser betonte der Parlamentarische Staatssekretär des Innenministeriums, Dr. Ole Schröder, selbstbewusst, dass die offizielle Statistik „nicht in Zweifel zu ziehen“ sei.
Eine Aussage, die sich nur zwei Monate später mit der Selbstenttarnung des NSU jeglicher Grundlage entzog und die Behörden zum Handeln zwang. Auf erschreckende Weise wurden der Gesellschaft als Ganze sowie den Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden das Ausmaß rechter Gewalt vor Augen geführt: Über Jahrzehnte konnten Rechtsextreme unerkannt mordend durch Land ziehen und zehn Menschen töten.
Vergessene Tote: Wie viele Delikte gehen auf das Konto von Rechtsextremen?
Aufgrund dieses öffentlichen Drucks entschied sich das Bundeskriminalamt zusammen mit allen 16 Landeskriminalämtern, mehr als 3.300 unaufgeklärte versuchte und vollendete Tötungsdelikte zwischen 1990 und 2011 noch einmal auf ein mögliches rechtsextremes Tatmotiv zu prüfen. Schließlich wurden bei 745 Tötungsdelikten und –versuchen (mit insgesamt 849 Opfern) Anhaltspunkte für ein rechtes Tatmotiv gefunden. In diese Überprüfung sind die bisher nicht anerkannten 117 Fälle der Liste der „Todesopfer rechter Gewalt von 1990-2011“ miteinbezogen, die von „Der Tagesspiegel“ und „Die Zeit“ geführt wird.
Brandenburg ist bei der Überprüfung dieser „Altfälle“ einen ganz eigenen Weg gegangen. Als einziges Bundesland entschied sich Brandenburg ein externes Forschungsinstitut zu beauftragen, um die sogenannten Altfälle vom Moses Mendelssohn Zentrum (MMZ) der Universität Potsdam unabhängig überprüfen zu lassen. Zwar untersuchten auch Sachsen und Sachsen-Anhalt die Fälle eigenständig, jedoch nicht so detailliert. In den übrigen Ländern lief die Auswertung über eine interne Arbeitsgruppe des Gemeinsamen Abwehrzentrums Rechtsextremismus (GAR) des Bundes.
Sonderfall Brandenburg: Unabhängige Überprüfung der Todesopfer rechter Gewalt
Eine weitere Besonderheit beim Brandenburger Weg war die Entscheidung des MMZ einen Expertenarbeitskreis einzurichten. In beratender Funktion diskutierten dort Vertreterinnen und Vertreter staatlicher und zivilgesellschaftlicher Institutionen über strittige Fälle. Die Amadeu Antonio Stiftung war Mitglied in diesem Arbeitskreis.
Vor diesem Hintergrund hat sich die Amadeu Antonio Stiftung zu einer Überarbeitung der Liste der Todesopfer rechter Gewalt entschieden. Durch das Mitwirken im Arbeitskreis hatte die Stiftung erstmals umfassend Einblick in die polizeilichen Ermittlungen und Gerichtsurteile der strittigen Fälle erhalten können. Bisher war dies nur in Ausnahmefällen möglich. Vielmehr konzentriert sich die Recherche zu den Todesopfern rechter Gewalt in der Regel auf Zeitungsberichte, Monitoring durch Opferberatungsstellen und Recherchearbeiten von Journalistinnen und Journalisten sowie Gedenkinitiativen. In Ausnahmefällen hat die Stiftung auch Gerichtsurteile erhalten.
Defizite bei den PMK-Rechts Kriterien
Für die Aufnahme in die Liste der Amadeu Antonio Stiftung waren neben den offiziellen Kriterien des polizeilichen Erfassungssystems „Politisch motivierte Kriminalität-rechts“ (PMK-Rechts) noch weitere Kriterien von Bedeutung. Zwar ist das 2001 reformierte Erfassungssystem durchaus leistungsfähiger als sein Vorgänger. Es weist aber immer noch eklatante Mängel bei der Erfassung rechter Straftaten auf, was bis heute zu einer Verzerrung der offiziellen Statistik führt. Vor allem die fehlende Berücksichtigung der Opferperspektive, beziehungsweise bei Tötungsdelikten die Perspektive der Angehörigen und Zeugen, für eine realitätsgetreuere Einschätzung der Gesamtlage, ist eines der größten Kritikpunkte am Meldewesen der PMK-Rechts.
Zudem erfährt das PMK-Erfassungssystem Kritik dafür, dass nur solche Taten als PMK-Rechts eingestuft werden, bei denen die rechte Motivation tatauslösend und tatbestimmend nachweisbar ist. Taten, in denen ein sozialdarwinistisches oder rassistisches Motiv mindestens eine tatbegleitende bis tateskalierende Rolle spielen, werden bisher jedoch nicht angemessen in der PMK-Statistik erfasst und damit von staatlicher Seite völlig entpolitisiert. Hier braucht es eine Möglichkeit, auch solche Fälle abzubilden, um die tödlichen Folgen von rassistischer und rechter Gewalt in Deutschland nicht länger zu verharmlosen. Denn solche Taten werden nicht ausschließlich vom rechten Rand mit gefestigter Ideologie begangen. Nein, viele Taten gehen auf das Konto von Alltagsrassisten aus der Mitte der Gesellschaft.
Folglich finden sich in der Liste der Amadeu Antonio Stiftung auch solche Tötungsdelikte, bei denen eine sozialdarwinistische und rassistische/rechte Motivation mindestens eine tatbegleitende bis tateskalierende Rolle gespielt haben. Darüber hinaus dokumentiert die Stiftung Fälle, bei denen die Täter eindeutig der rechtsextremen Szene zuzuordnen sind und ein anderes Motiv nicht erkennbar ist.
Sukzessive Entpolitisierung der Taten
Gerade für den Zeitraum zwischen 1990 und 2000 finden sich in dieser Liste viele Fälle, die von offizieller Seite nicht als Todesopfer rechter Gewalt anerkannt werden. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass damals Taten noch anhand des sehr engen Kriteriums „extremistisch“ beurteilt wurden. Das heißt, Taten, die sich gegen die „freiheitlich demokratische Grundordnung“ richten und eine „Systemüberwindung“ zum Ziel haben. Dies hatte zur Folge, dass die Polizei bei den Ermittlungen oftmals einer rechten Gesinnung überhaupt nicht nachgingen; und wenn sie es doch taten, finden sich derartige Ermittlungserkenntnisse später nicht mehr in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft, geschweige denn in der Gerichtsverhandlung und dem Urteil.
Hier kam es zu einer sukzessiven Entpolitisierung der Taten. Aus heutiger Sicht ist es daher sehr schwierig Licht ins Dunkel dieser Fälle zu bringen. Zumal einer Nichtregierungsorganisation die Einsicht in Polizeiprotokolle und Gerichtsakten (sollten diese noch vorhanden sein) nicht gestattet wird.
Von den 117 überprüften Fällen der „Tagesspiegel-Liste“ finden sich nun 15 Mordopfer in der Bundesstatistik wieder
Wie wegbereitend daher die Entscheidung des Bundeslandes Brandenburg war, externe Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie die Zivilgesellschaft bei der Überprüfung der Altfälle miteinzubeziehen, zeigt sich gerade bei den Fällen zwischen 1990 und 2000. Dies offenbart auch die im Juli 2015 veröffentlichte Antwort der Bundesregierung auf die Bundestagsdrucksache 18/5488 der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen. Die bundesweite Überprüfung der 745 Tötungsdelikten und –versuchen ist nun abgeschlossen. Von den 117 Fällen der „Tagesspiegel-Liste“ finden sich nun 15 Mordopfer in der Bundesstatistik wieder. Allein in Brandenburg wurden neun davon davon anerkannt. Lediglich Sachsen und Sachsen-Anhalt haben jeweils drei Fälle neu bewertet. Alle anderen Bundesländer bleiben bei ihrer ursprünglichen Einschätzung. Folglich wurden nur in den Ländern Todesopfer nachgemeldet, in den eine eigenständige Untersuchung stattfand.
Zu Recht kritisierten die Grünen, dass das BKA die Zivilgesellschaft nicht bundesweit in die Neubetrachtung der Fälle einbezog. „Der Bund hat die durch ihn koordinierte Altfallprüfung sehenden Auges an die Wand gefahren“, resümiert die grüne Bundestagsabgeordnete Monika Lazar.
Große Diskrepanz bleibt weiter bestehen
106 rechte Morde in Deutschland seit 1990 zählt die Bundesregierung nun offiziell. Eine große Diskrepanz bleibt also weiter bestehen: Die Amadeu Antonio Stiftung zählt 213 Todesopfer rechter Gewalt. Zudem eine Verdachtsfallliste mit 12 weiteren Fällen. Bei den Verdachtsfällen handelt es sich um Taten, bei denen es nach bisherigem Informationsstand starke Indizien für ein rechtes Motiv gibt. Aus heutiger Sicht lassen sich jedoch die Tatmotive nicht mehr zweifelsfrei klären, weil entweder Akten bereits vernichtet wurden oder durch die Polizei keine Ermittlungen in die Richtung eines politischen Motivs erfolgten. In diesen Fällen hoffen wir auf weitere Erkenntnisse.
Dunkelziffer ist weitaus höher
Mit der Liste der Todesopfer rechter Gewalt versucht die Amadeu Antonio Stiftung den Menschen, die durch rechte Gewalttäter ums Leben kamen, einen Namen zu geben. Nicht immer gelingt das. Die Dunkelziffer ist weitaus höher. Dies hat nicht zuletzt die Selbstenttarnung des NSU gezeigt. Zudem werden nicht immer die Namen bekannt. Vor allem bei Menschen aus dem Wohnungslosen-Milieu ist dies häufig der Fall. Obdachlose finden als Opfergruppe rechter Gewalt kaum Beachtung. Selten wird ihnen gedacht, über ihr Leben kaum berichtet. Die Amadeu Antonio Stiftung sucht daher den Kontakt zu Gedenkinitiativen und fördert ihre wichtige Arbeit.
Die Recherchen für diese Liste stützen sich zudem auf die Opfer-Chroniken der „Frankfurter Rundschau“ und „Der Tagesspiegel“, auf die Nachforschungen des Zentrums Demokratische Kultur (ZDK) und des Internetportals „Netz gegen Nazis“ sowie auf die Wanderausstellung „Opfer rechter Gewalt seit 1990 in Deutschland“ der Künstlerin Rebecca Forner und des Vereins Opferperspektive. Da der rechtsextreme und rassistische Gehalt vieler Gewalttaten sich in einigen Fällen erst sehr viel später erschließt, wurden nach gründlicher Recherche einige zurückliegende Fälle in die Liste mit aufgenommen. Auch den Leserinnen und Lesern der MUT und Opferfonds CURA-Website ist es zu verdanken, dass einige Fehler berichtigt und neue Fälle hinzugefügt werden konnten.
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