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Ein Projekt des Magazins stern und der Amadeu Antonio Stiftung
Aus dem schwierigen Alltag der Aussteigerinitiative EXIT. Ihre Mitarbeiter sind vielleicht die einzigen, die von Neonazis als echte Bedrohung begriffen werden. Sie reisen durchs Land, sie sind entwaffnend – und machen Rechtsradikalen Mut zum Ausstieg. Doch der Staat zahlt dafür nicht mehr.
Von Deike Diening, Tagesspiegel
Matthias Adrian nimmt Witterung auf. Er steigt langsam die Treppe vom Gleis herunter in die Unterführung, seine Augen wandern über Graffiti. Er liest: "Gegen Rassisten, gegen Nazis". Daneben rufen Rechte per Aufkleber zu einer Demo in Berlin. Adrian zieht einen Metallschaber an seinem Schlüsselbund aus der Hosentasche und zerkratzt die Kontakt-Email-Adresse.
Und als er auf der anderen Seite wieder ans Tageslicht tritt, vor dem Bahnhof, mit seiner ledernen Arzttasche in der Hand und der Kappe auf dem Kopf, da hat er sich bereits ein Bild gemacht von der extremen Szene rund um den Bahnhof Hermsdorf-Klosterlausnitz, dass es hier Rechte gibt, aber auch Antifa, nicht zu knapp.
Dieser Blick ist über Jahre geschult, und das liegt daran, dass Adrians Reise hierher nicht nur diese drei Stunden und 18 Minuten von Berlin-Hauptbahnhof gedauert hat, sondern in Wahrheit vor über 20 Jahren in Hessen begann.
Er war einmal ein Neonazi, der den Ausstieg geschafft hat. Seit acht Jahren betreut er für die Aussteiger-Organisation EXIT einerseits andere Aussteiger, andererseits hält er Vorträge in Schulen, Berufszentren und Jugendklubs, wo er anderen davon erzählt, wie dämlich es ist, ein Neonazi zu sein. Im Prinzip sind sich die meisten einig, dass dies eine lobenswerte gesellschaftliche Aufgabe sei. Nur, dass Adrian jetzt gekündigt ist. Auch allen anderen EXIT-Mitarbeitern wurde vorsorglich gekündigt. Denn EXIT geht das Geld aus. Es ist nicht klar, ob alle Entscheidenden, die dachten, dass der Staat die 90.000 Euro im Jahr nicht mehr aufbringen könne, wussten, dass ihnen Folgendes verloren geht.
In der hellhölzernen Aula des Berufsschulzentrums Hermsdorf setzt Matthias Adrian jetzt zu seinem „klassischen Vortrag“ an. Auch zwei Polizisten sitzen im Publikum, nur so zur Sicherheit. Und während die prüfenden Blicke von 60 Schülern über Adrians Erscheinung flitzen, das Halstuch registrieren, die ledernen Stiefel, das blau-weiße Fischerhemd und die Weste, die Standfestigkeit, die auch Leibesumfang verleihen kann, spricht Adrian in das Mikrofon von der Zeit, als ihn die Neonazis faszinierten.
Wie er aufwuchs in einem kleinen Dorf im Hessischen und sein Großvater es begrüßte, dass er sich für den Zweiten Weltkrieg interessierte. Wie er sein Interesse mit der „National-Zeitung“ auf dem Hochsitz des Opas verfolgte. Dass dieser Opa sagte, im Prinzip habe ja niemand in der Welt die Juden je gemocht, die Deutschen waren mit der Verfolgung nur gründlicher. Er erzählt, dass er dann anfing, Flugblätter in der Schule zu verteilen, sich einen eindeutigen Scheitel zog und schließlich von der Schule flog. Er wusste damals nicht, wo Königsberg liegt. Aber er hat es schrecklich vermisst.
"Genau das ist das Problem: Dass alle zu wenig wissen und deshalb gar nicht merken, wie sie anderen aufsitzen"
Und genau das ist das Problem: Dass alle zu wenig wissen und deshalb gar nicht merken, wie sie anderen aufsitzen. Auch Adrian stieg auf in der Hierarchie, bis er irgendwann bemerken musste, dass die Kader ständig den Finger in der Kasse hatten. Adrian guckt in die Aula. Die Kasse scheint ja auch heute noch das Wichtigste. Und dann sagt er, komisch eigentlich, der Devotionalienhandel läuft wie geschmiert. Eine CD zum Produktionspreis von 1,50 Euro werde zum „Kameradschaftspreis“ von zehn Euro verkauft, das ist ja mal eine ganz „antikapitalistische“ Gewinnspanne. Ach, die Rechten verdienen über ihr Versandhaus am nationalen Duftwasser „Walküre“ und „dem herben Duft des Reiches“. Gemerkt, dass die „Deutsche Stimme“ schon lange nicht mehr in Deutschland gedruckt wird? Wie national ist es wohl, aus Kostengründen nach Polen und dann nach Litauen zu ziehen? All die Rudolf-Heß-Köpfe, Rückenaufnäher, Aschenbecher! Da sieht der Nationalismus, der Feind des Großkapitals, nur noch wie professionelles Merchandising aus.
Die Schüler wirken etwas erschlagen. Und woher komme denn die Bomberjacke? – „Fliegerjacke“, korrigiert einer von hinten. „Schöne Grüße aus Dresden“, sagt Adrian vorne. Hinten Stille.
Es ist seine Technik, dass er immer das letzte Wort hat. Man müsse einfach mehr wissen, sagt er, und dann zeigt er ihnen, dass nicht einmal ihre innere Logik funktioniert. Ein Mädchen mit Lonsdale-Jacke lutscht in der ersten Reihe zweifelnd an seinem Lippenpiercing herum.
Das Gefühl, irgenwie missbraucht worden zu sein
Der Zweifel ist ihr größter Verbündeter, sagen die EXIT-Mitarbeiter. Sie streuen ihn gerne mal so aus. Sie zählen auf seine zersetzende Kraft. Sie müssen auf den gesunden Menschenverstand der Rechten setzen, der irgendwann die Widersprüche in den Ideologien wahrnimmt. Ihnen muss aufgehen, dass sie ausgenommen und benutzt werden. Das war auch bei Adrian selbst am Ende das stärkste Gefühl: irgendwie missbraucht worden zu sein.
Adrian ist manchmal Tage am Stück in Zügen auf dem Weg von einer Berufsschule, einem Jugendklub zum anderen unterwegs. Sein strapaziertes Handy wird nur noch von Tesafilm zusammengehalten, dauernd klingelt es. Die eingleisigen Bahnhöfe in der Provinz sind ihm vertraut, die Vertreter der Jugendklubs, die ihn einladen, die Schulleiter, die Hotelzimmer in den ländlichen Gebieten. Ein Reisender in Sachen Rechts. „Diese wunderbare Neigetechnik“, sagt er, und es ist nicht klar, ob er das jetzt ernst meint, oder ob ihm schon schlecht ist davon, wie sich der Regionalzug so abwechselnd nach rechts und links in die Kurven Thüringens legt.
Thüringen ist gerade im Fokus der Rechten, ihre neue Front, wenn man so will, und zwar deshalb, weil es eben noch keine NPD im Landtag gibt. Aber das könnte kippen, 2009 wird gewählt, die zweitstärkste Kraft im Land ist nach der CDU die Linke, aber in Umfragen holen die Rechten auf. Das liegt auch daran, dass sie seit einigen Jahren deren Slogans übernehmen. Und dass sie ihre Methoden geändert haben. Statt kriminell werden sie jetzt politisch. Das ist erlaubt. Nicht so auffällig. Und viel gefährlicher für die Gesellschaft als Ganzes.
EXIT will dafür sorgen, dass sie sich nicht ganz abkoppeln. Keine Parallelgesellschaft werden, von deren Mechanismen am Ende niemand mehr etwas versteht. Ihre Informationen sind frisch und werden durch die 40 bis 50 Aussteiger im Jahr ständig erneuert. Einer von ihnen hat berichtet, dass bei der NPD in Brandenburg in Sachen EXIT eine ganztätige Aufklärungs-Veranstaltung stattfand: Seminare über die Methoden und Arbeitsweisen von EXIT, wie man Kontaktaufnahme vermeidet, kurz, wie man nicht in die Fänge dieser Aussteiger-Beratung gerät, die seit 2000 nach eigenen Angaben in über 350 Fällen erfolgreich war.
Auf eine Art war dieses Seminar natürlich die höchste Weihe. Manche sagen, EXIT sei die einzige Organisation, die die Rechten ernst nehmen und als echte Bedrohung begreifen.
Es melden sich ja nicht nur Wald-und-Wiesen-Nazis bei ihnen, sondern auch ranghohe, die fest in den Strukturen verankert sind, die selbst andere geschult haben. Ihr Austritt ist ein Schlag für die Szene. Sie haben ja alles in der Hand! Sie sind Geheimnisträger, haben Kenntnisse über Straftaten und einen SMS-Verteiler. Dann kommt die Wut über den Verrat.
Zwei Ansprechpartner, Tag und Nacht erreichbar
Je höher die Stellung, desto stärker die Wut. Und dann kommt die Begleitung von EXIT. Zwei Ansprechpartner bekommt der Aussteiger zugeteilt, die Tag und Nacht erreichbar sind. Manche werden gerade am Anfang zwischendurch panisch, und deren Mütter auch. Sie analysieren die Ursachen und spielen Szenen durch, die jetzt auf ihn zukommen: mit Lehrern, bei der Arbeit, vor Gericht, mit alten Kumpels. Manche benötigen auch einen neuen Wohnsitz.
EXIT hatte bislang mehrere Quellen der Finanzierung. Einen Teil lieferte die Amadeu Antonio Stiftung, ein Teil kommt von privaten Spenden, und 90.000 Euro hat in diesem Jahr noch das Bundesarbeitsministerium gegeben. Förderbedingungen habe ihre eigene Logik: Das Ministerium versteht die letzten drei Jahre als Anschubfinanzierung, dann sollte sich EXIT selber tragen. Aber wie soll das gehen? Firmen zum Beispiel wollen etwas fördern, das gut aussieht. Glatzen und Totschläger sehen in keiner Broschüre gut aus.
Für Ministerien ist es schwer, das Projekt in die Förderlogik einzuordnen. EXIT hängt überall dazwischen: Sie machen Jugendarbeit, aber auch Prävention, Gefangenenhilfe und sogar Familienhilfe. Das Thema durchläuft alle Ressorts. Aber es wäre auch gar nicht gut, wenn EXIT nur vom Staat finanziert würde. „Der Staat ist nach den Juden der Hauptfeind“, sagt ein Mitarbeiter. Wenn ein Nazi zweifelt, wendet er sich nicht gleich an den.
Bernd Wagner, den Gründer von EXIT, 53, ehemaliger Hauptkommissar, kann man in einem Café am Berliner Alexanderplatz treffen. Er ist ein bisschen kampfesmüde, es ist nicht das erste Mal, dass ihm seit der Gründung die Finanzierung wegbricht. Sein Problem ist, dass die Aufmerksamkeit und damit der Finanzierungswille einer Konjunktur unterliegt, deren Spitzen bei spektakulären Gewalttaten oder dem Einzug der NPD in bis dahin NPD-freie Parlamente liegen.
Wagner wollte mit EXIT weg von dieser Konjunktur. Dazu hat er ein Team aus Kriminologen, Politologen und Aussteigern zusammengestellt. Bei vielen anderen steht das „Gesicht zeigen“ im Vordergrund sagt er. Das hört man schon, da geht es auch um die Repräsentation der Veranstalter. Eine repräsentative Art des „Staatsantifaschismus“, die sich aber vor der Mühe scheut, die es braucht, um im Einzelnen die Prozesse zu verstehen und zu verhindern.
Ihre Erfahrung sagt ihnen: Gar nichts fruchte das Gerede von der Demokratie, das Lob der Freiheit. Das seien hohle Phrasen, die mit der Lebenswelt der Leute nichts zu tun haben und den Redner als unglaubwürdig entlarven. Rechte greifen ja längst immer weniger auf das „Dritte Reich“ zurück. Stattdessen diskutieren sie die Ungerechtigkeit. Und damit können sich viel mehr Leute identifizieren. Die rechte Ideologie bietet ein Rundum-Konzept für heutige Probleme. Sie stellt sich nett vor. Es sieht aus wie eine jugendliche Verirrung, aber es unterscheidet sich fundamental. Weil ein komplettes Ersatzleben angeboten wird, das alles einschließt: auch das, was nach der Jugend kommt, die Familie, die Schule, die Erziehung, die Kinder, die Arbeit.
„Das Entscheidende ist, dass sie Gruppen anbieten“
„Das Entscheidende ist, dass sie Gruppen anbieten“, sagt Wagner. Die Ideologie kommt hinterher. In diesen Gruppen wird „Identitätspolitik“ gemacht, da verläuft „das braune Band der Sympathie“. Und deshalb haben Aussteiger auch das Gefühl, dass ihnen mit der Abkehr „alles“ wegbricht. Dass dann nichts mehr übrig bleibt von ihrem Leben. Aber wo genau der Bruch verlaufe, wo hinter all der Zuwendung die braune Denkweise steckt, bekommen viele schon nicht mehr mit.
Wagners Kaffee ist kalt geworden. In diese Kraftfelder der Gruppen wollen sie hinein, sagt er, sie aufbrechen, die Emotion von der Ideologie trennen. „Das geht nicht mit Bauchtanz und Trommeln“, sagt Wagner spöttisch.
Man hat ihm vorgeworfen, er sei ein „Täterversteher“. Ja, aber man muss doch verstehen, was man bekämpfen soll, oder? Da muss man analysieren und beobachten. Rechte haben ihm erzählt, dass sie jetzt die linken Theoretiker lesen. Warum? Das ist für uns ein Steinbruch, sagen sie. Sie brechen heraus: das Arbeiterbild. Den berühmten kleinen Mann. Sie docken an am Gefühl systemischer Ungerechtigkeit. „Die Finanzkrise hätte man erfinden müssen.“
Warum macht er noch weiter? „Weil ich etwas davon verstehe“, sagt er. Weil er den Staat nicht aus der Pflicht lassen will. Deshalb wird er sich auch weiterhin um neue Mittel bewerben. Die Aufrechterhaltung der Demokratie, sagt Wagner, muss im Interesse des Staates sein.
Mehr unter: www.exit-deutschland.de
Der Originalartikel von Deike Diening erschien am 17.10.2008 unter der Überschrift "Der Blick erlischt" im Berliner Tagesspiegel unter folgendem Link:
http://www.tagesspiegel.de/zeitung/Die-Dritte-Seite-Rechtsextremismus;art705,2638109
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