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Neben Kundgebungen gegen Flüchtlinge nehmen in den letzten Jahren auch vermehrt Anschläge auf deren Unterkünfte zu. Es ist daher an der Zeit, endlich den Bogen zu schlagen von rechtsextremen Taten hin zu rechtsextremen Einstellungen. Denn diese sickern seit Jahren immer weiter in die Mitte der Gesellschaft. Es gibt also einen atmosphärischen Zusammenhang, der nicht von der Hand zu weisen ist. Jeder Angriff auf Flüchtlinge sagt auch etwas darüber aus, wie die Gesamtgesellschaft mit dem Thema Flucht und Migration umgeht. - Ein Kommentar von Marion Kraske, zuerst erschienen bei debattiersalon.de.
Ein Kommentar von Marion Kraske
Es gibt Tage, da rauscht es im deutschen Blätterwald, da blitzt und donnert es auf allen Kanälen, da werden Nichtigkeiten aufgebauscht, ganz so als gäbe es nur dieses eine Ereignis. Als gäbe es nur diese HOTNews – und nichts anderes.
So geschehen mit der übervorsichtigen Nachricht, dass Michael Schumacher dabei ist, aufzuwachen. Infolge wurden Schlagzeilen über Schlagzeilen produziert, Interviews mit Neurologen, Psychologen, Sportlern, Experten und Nicht-Experten geführt, Hintergründe geliefert – über was eigentlich?. Was heißt das, was bedeutet das? Wie gesund ist er? Wie unausweichlich und betrüblich sind die Spätfolgen? Spekulationen. Mutmaßungen. Ein irrwitziger Medienhype brach sich Bahn. Buffbaffbäng!
Dann gibt es Tage, an denen wirklich etwas passiert, Wegweisendes. Bedeutsames. Und es wird von der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen. Bis auf ein paar nüchterne Nachrichten. Keine Reaktion. Nichts.
Die Grundsatzrede von Bundespräsident Joachim Gauck war so ein Ereignis. Trotz ihrer Bedeutung und Aussagekraft verpuffte der Inhalt schnellstmöglich. Zu unangenehm das Thema? Zu unwichtig jene, um die es dabei im Kern ging? Stimmt ja, gab ja schließlich noch was Wichtgeres, Sie wissen schon, das Rund, das ins Eckige……
Der Grund für Gaucks Desinteresse liegt auf der Hand, schließlich ging es bei der Rede nicht um einen Promi, nein, es ging um die amorphe Masse der Flüchtlinge aus aller Welt. Und darum, welchen Umgang wir mit ihnen pflegen.
In aller Deutlichkeit sprach der Bundespräsident wie vor ihm kein Zweiter in diesem Zusammenhang uns, den Deutschen, ins Gewissen, indem er kritisierte, wie wir diese Menschen, die auf der Flucht sind, behandeln.
„Die Bilder der Särge im Hangar des Flughafens von Lampedusa – sie passen nicht zu dem Bild, das wir Europäer von uns selber haben“, sagte Gauck und monierte damit nicht nur die europäische Flüchtlingspolitik, sondern auch explizit die deutsche Haltung zum Thema. „Wir, das heißt Deutschland und auch Europa, tun viel – aber nicht so viel, wie es uns selbst manchmal scheint.“
Gaucks Worte treffen einen wunden Punkt: Regelmäßig sterben Flüchtlinge an den europäischen Außengrenzen, sterben, weil die Abwehr dieser Menschen Europa (zur Erinnerung: Friedensnobelpreisträger 2012) wichtiger erscheint als deren Schutz oder Rettung. Schätzungen zufolge sind im Mittelmeer seit 1988 rund 20.000 Menschen ertrunken, womöglich liegt die Zahl entschieden höher. Erschreckende Zahlen. Aber interessiert das überhaupt noch jemanden?
Festung Europa
Der Spruch von der Festung Europa – er bewahrheitet sich auf diese Weise jeden Tag aufs Neue. Welchen Wert aber haben angesichts dieser Toten die sonst so hochgehaltenen europäischen Werte wie Humanismus und zivilisatorische Kraft, wenn sie im Umgang mit Menschen, die es aus Not, aus dem Bedürfnis heraus, ihre Familie zu retten, ins gelobte Europa zieht, mit Füßen getreten werden?
Was ist Europa wert, diese selbstgefällige Trutzburg der Gesettelten, wenn zu ihrem Schutz der kategorische Imperativ zum Schutze Schwacher und Bedürftiger, der paradoxerweise immer noch Teil des westlichen Selbstverständnisses ist, in Wahrheit überhaupt nicht mehr zählt?
Wie bigott Europa (auch mit freundlicher Unterstützung aus Deutschland) beim Thema Flüchtlingspolitik agiert, konnte man nach der Schiffskatastrophe im Mittelmeer mit mehr als 300 Toten im vergangenen Oktober beobachten, als sich EU-Offizielle wie der damalige EU-Kommissionspräsident Barrosso „geschockt und traurig“ gaben. Nur wenige Wochen später forcierte Europa dann seine Abschottungspolitik – als hätte es die Katastrophen zuvor nicht gegeben.
Gauck hat recht, wenn er nun ein Umdenken fordert. „Eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik hat sicherzustellen, dass jeder Flüchtling von seinen Rechten auch Gebrauch machen kann – nicht zurückgewiesen zu werden ohne Anhörung der Fluchtgründe, gegebenenfalls auch Schutz vor Verfolgung zu erhalten.“
Eben dieser Appell macht Gaucks Rede so bedeutsam, so wegweisend für Künftiges. Zumal in einem Themenbereich, bei dem wir Deutsche uns gerne wegducken. Wir täten schon genug, so lautet ein immer wieder kehrendes Argument gegen ein größeres Engagement für Flüchtlinge.
Wir gegen “die da”
In Wahrheit ist es an der Zeit, sich Deutschland neu positioniert. Dass es mit Hinblick auf seine besondere Geschichte nicht mitmacht bei der im öffentlichen Diskurs derzeit äußerst populären Einteilung der Welt in „Wir, Deutschland“ und „die da von außen“. Anders als populistische Gruppen der Öffentlichkeit weis machen wollen, gehört kein „Mut“ dazu, sich lediglich für die vornehmlich eigenen Interessen stark zu machen, vielmehr ist es Zeichen einer seltsam rückwärtsgewandten Geisteshaltung, vorzugeben, lediglich die nationalen (welche eigentlich?) Interessen wahren zu wollen. In einer globalisierten Welt erscheint das mehr als grotesk.
Was tatsächlich fehlt ist eine neue, tolerantere Haltung gegenüber jenen, die in Europa um Einlass bitten. Eine Haltung, die – anders als die Untergangsapologeten von Sarrazin bis Lucke propagieren, erst einmal nichts kostet. Eine Haltung, die Flüchtlinge nicht per se zu Schmarotzern oder minderwertigem Ballast stempelt. Warum etwa muss uns erst das EUGH darauf hinweisen, dass eine Unterbringung von Abschiebehäftlingen im normalen Strafvollzug nicht angemessen ist?
Wahlkämpfe auf Kosten von Flüchtlingen
Es geht um eine Haltung, die darauf verzichtet, Wahlkämpfe dazu zu nutzen, sich auf Kosten von Migranten und Flüchtlingen zu profilieren und sie in einem Atemzug mit Kriminellen zu nennen („Wer betrügt, der fliegt“). Schließlich um eine Haltung, die vor allem die Chancen von Einwanderung (Vielfalt nutzen) betont und nicht einseitig die Negativ-Folgen hervorhebt und populistisch aufbauscht. Deutschland braucht Zuwanderung – diese Erkenntnis gilt es endlich auch mit Leben zu füllen.
Wie bedeutsam ein derartiges Umdenken für die Gesellschaft insgesamt ist, beweisen nicht zuletzt die Morde des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Die Täter haben mit niederträchtigem Hass und kalkulierter Präzision Menschen getötet, nur weil sie eine andere Herkunft hatten. Die Terrortruppe aber, darauf verweist der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer mit Nachdruck, wird in der öffentlichen Analyse fälschlicherweise nur allzu gern ausgegliedert. Man tue so, als hätten die Mörder des NSU nichts mit der vermeintlich „intakten“ Gesamtgesellschaft zu tun, so die Kritik des Wissenschaftlers. Heitmeyer nennt das: Gesellschaftliche Selbstentlastung. Man könnte auch sagen: Selbstbetrug.
Rechtsextreme Einstellungen
Tatsächlich wäre es an der Zeit, einmal den Bogen zu schlagen von rechtsextremen Taten hin zu rechtsextremen Einstellungen. Diese, das belegen langjährige Studien der Wissenschaftler Oliver Decker, Johannes Kiess und Elmar Brähler, sickern seit Jahren immer weiter in die Mitte der Gesellschaft. Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Chauvinismus, religiöse Intoleranz gegenüber Andersdenkenden, Antisemitismus. Alle diese Ideologiebausteine sind längst kein ausschließliches Problem des rechten Randes, sondern werden auch bei Kamingesprächen im bürgerlichen Lager gern ventiliert.
Täter vom rechten Rand fühlen sich bestärkt, ihren Hass auch in Taten umzusetzen, weil sie zu recht glauben, dass sie für ihre Angriffe den Rückhalt in der Bevölkerung besitzen. Es gibt demnach sehr wohl die Verpflichtung, den Umgang der Gesamtgesellschaft mit Minderheitengruppen zu hinterfragen. Denn vertreten nicht bei Protesten gegen Flüchtlingsheime inzwischen vermeintlich brave Bürger, die vornehmlich nur um ihre Sicherheit oder aber den Wert des kleinen Heims fürchten, mit Aktivisten der NPD ein und dieselben Ziele? Nämlich: Ausländer raus?
© Amadeu Antonio Stiftung
Diese Mechanismen, die die Grenzen zwischen berechtigten Bürgersorgen und grober Ausländerhatz zunehmend verwischen, gilt es, mit einer neuen Haltung gegenüber Flüchtlingen und Migranten zu begegnen. Denn auch nach NSU geht die Gewalt gegen alles, was anders, schwul, links oder einfach nur fremd und unbekannt ist, tagtäglich und quer durch die Republik weiter – rechtsextreme Taten nehmen zu. So hat sich die Zahl der Angriffe auf Flüchtlingsheime im Jahr 2013 verdoppelt.
Festzuhalten bleibt, dass seit zwei Jahren neben Kundgebungen gegen Flüchtlinge auch Anschläge auf deren Unterkünfte zunehmen. Es gibt also einen atmosphärischen Zusammenhang, der nicht von der Hand zu weisen ist. Jeder Angriff auf Flüchtlinge sagt auch etwas darüber aus, wie die Gesamtgesellschaft mit dem Thema Flucht und Migration umgeht.
Statistisch gesehen finden in Deutschland pro Woche fünf flüchtlingsfeindliche Kundgebungen oder Demonstrationen statt. Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte werden im Schnitt ein mal pro Woche registriert. Dies zeigt eine gemeinsame bundesweite Dokumentation der Amadeu Antonio Stiftung und PRO ASYL. Der Protest gegen Flüchtlinge und die ungezügelte Gewalt gegen sie gehen somit eine gefährliche Melange ein.
Eben deswegen darf Gaucks Appell nicht folgenlos bleiben. Wir alle haben es in der Hand. Um den Tätern den Nährboden zu entziehen, müssen wir, muss Deutschland, muss Europa klare Signale setzen: Gegen Ausgrenzung und Gewalt, für Humanismus und Menschlichkeit. Für Toleranz und Offenheit. Eben das sind die europäischen Werte. Kein dumpfer Nationalismus.
Marion Kraske, studierte Politologin, ist freie Journalistin, Kolumnistin und Buchautorin. In ihrem 2009 erschienenen Buch „Ach Austria. Verrücktes Alpenland“ (Molden-Verlag) zeigt Kraske unter anderem die Problematik des geistigen Rechtsextremismus in Österreich auf. Sie ist außerdem Gründerin des Polit-Blogs www.debattiersalon.de.
Foto: © Noborder Network/ CC BY 2.0