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''Zu viele sitzen hinter dem Ofen''

 Bundestag, Präsidialebene. Genau 30 Minuten Zeit. Nach einer Anfrage nur 24 Stunden zuvor empfängt uns Vize-Bundestagspräsident Thierse mit einer Gruppe russischer, polnischer und deutscher Nachwuchsjournalisten, die zu gast beim Verband der Jugendpresse Deutschland sind.  "Auf gehts", sagt er, "es ist Ihre Zeit!" . Nicht nur über Rechtsextremismus, sondern auch über die Frage, wie belastet das deutsch-polnische Verhältnis derzeit ist und ob das Holocaust-Mahnmal nicht viel zu spät errichtet worden ist?

Herr Bundestagspräsident Thierse, müssen mehr als 60 Jahre nach Kriegsende Deutschlands Nachbarländer die Furcht haben, dass sich Nazideutschland einmal wiederholt?

Nein. Wieso sind Sie besorgt?

Auch mehr als sechs Jahrzehnte nach dem Untergang des 3. Reichs grassiert in Deutschland Rechtsextremismus, versammeln sich Neonazis in vielen Städten und Berlin und werden in Sachsen und Schwerin sogar in den Landtag gewählt. Hat die Politik versagt?

Moment mal. Zunächst einmal ist nicht jemand anders am Rechtsextremismus schuld, als derjenige der rechtsextremistisch wählt. Zweitens: Was soll das heißen: Wer ist denn „die Politik“? Gegen Rechtsextremismus vorzugehen, ist doch keine Sache nur für die da oben, für „die Politik, die Justiz, die Polizei“. Nein, es ist eine Sache der Bürger! Möglichst vieler demokratischer, anständiger Bürger.

Aber doch auch der gesellschaftlich tragenden Kräfte, der Parteien?

Natürlich sollen die Parteien dabei mithelfen.  Politiker haben sogar die Schuldigkeit und die Pflicht, Initiativen, Jugendprojekte und Leute zu unterstützen, die sich für unsere Demokratie engagieren. Sie können ihnen helfen, Aufmerksamkeit zu gewinnen und auch ein bisschen finanziell. Praktisch gibt es aber vor Ort manchmal Grenzen, wo wir als Parteien überfordert sind. Schauen Sie, meine Partei,  hat in Sachsen nur so viel Mitglieder wie in ganz Dortmund, wir sind dort schlicht zu wenige. Die NPD nutzt das mit geschulten Kadern clever aus, organisiert Stadtteilfeste und andere Zusammenkünfte mit sozialem Anstrich, um auf Schleichwegen ihren Einfluss auszudehnen.

Ist es nicht peinlich für Deutschland, dass mehr als 60 Jahre nach Untergang des Nazi-Deutschlands Neonazis sogar wieder in Landesparlamente wie in Sachsen, mecklenburg  oder Brandenburg eingezogen sind?

Ich bitte Sie, auch hier zu relativieren.Rechtsextremismus ist kein reines ostdeutsches Problem, Republikaner und DVU haben in den letzten Jahren auch in westdeutschen Landesparlamenten Wahlerfolge erzielt. Überdies gibt es in anderen europäischen Ländern noch sehr viel populärere rechtsextremistische Parteien. Das ist ein Stück gesamteuropäischer Gegenwart. Ich will aber damit nichts beschönigen, denn Sie haben natürlich Recht: Gerade in unserem Land sollte der Anspruch ein besonderer sein, zu zeigen, dass wir aus unserer eigenen Geschichten gelernt zu haben, die so fatal für andere Völker in Europa war. Insofern ärgern mich die Erfolge der Rechtsextremisten natürlich auch.

Wo liegen denn die Ursachen, dass gerade in ostdeutschen Kleinstädten immer wieder Neonazis aufmarschieren?

Man darf nicht vergessen: viele Hintermänner dieser Bewegung kommen zu einem großen Teil gar nicht von dort, sondern aus dem Westen, zum Beispiel aus Hamburg oder Süddeutschland. Hören sie auch mal auf den Akzent der sächsischen NPD-Abgeordneten: sächsisch ist der nicht. Die profitieren von den Auswirkungen der dramatischen Umbrüche, die nach dem Mauerfall im Osten geschehen sind. Viele Menschen fühlen ihr Leben entwertet. Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit gibt es dort ein besonders großes Ausmaß sozialer, ideologischer und ideell-moralischer Verunsicherung und Verängstigung. Und verängstigte Menschen sind immer empfänglich für die schlichten Botschaften der Vereinfacher, die allzu gerne auch menschenfeindliche Vorurteile instrumentalisieren. Bis hin zur unsäglichen antisemitischen Parole, der Jude sei Schuld oder der Ausländer.

Warum ist die NPD ausgerechnet in Sachsen so stark?

Die NPD hat sich gezielt Sachsen als eine Zielregion ihrer Arbeit ausgesucht, weil dort zu lange Zeit eine Landesregierung nicht wahrhaben und reagieren wollte, auf das, was sich im rechtsextremen Spektrum tat. Vorbeugende Jugendarbeit wurde nicht gefördert. Das rächt sich jetzt.

Ist denn dort der Bürgergeist so mau?

Das ärgert mich auch. Nicht wenige sitzen hinter dem Ofen, jammern und gucken fern oder sagen sich: vielleicht haben sie ja Recht, die Rechten. Ich habe das schon vor ein paar Jahren gesagt, dass Rechtsextremismus kein parteipolitisches Randphänomen ist, sondern aus der Mitte der Gesellschaft kommt. Daraufhin haben mich sächsische Politiker als Nestbeschmutzer beschimpft.

Aber woher kommt die Sympathie ausgerechnet für eine Partei, die diese Demokratie abschaffen will? Ist Demokratie im Osten weniger als Wert geschätzt?

Das hat eher mit einer unterschiedlich langen Demokratieerfahrung zu tun. Im Osten wurde sie nur zu einem geringen Teil selber erworben und zum größten Teil übernommen. In Zeiten sozialer Ängste erschwert das das Ja zur Demokratie. In Westdeutschland war der Aufbau der Demokratie mit einer Erfolgsgeschichte verknüpft – dem sie verlief parallel mit dem Wirtschaftswunder. Das erleichterte damals natürlich die Zustimmung.

Liegt der Erfolg der NPD dort nicht auch daran, dass sie den Eindruck erweckt, dass sie anpackt, was den Menschen unter den Nägeln brennt?

Inwiefern packt den die NPD etwas an? Ich kenne keinen praktischen konstruktiven Vorschlag, sondern allenfalls populistische Stimmungsmache.
Das was der Gesellschaft unter den Nägeln brennt ist doch ständig Gegenstand des Streits der etablierten Parteien bei ihrer ganz konkreten Lösungssuche von Problemen, etwa der Arbeitslosigkeit. Aber wir haben keine Wundermittel und versprechen auch keine. Das wäre sonst eine Aufforderung an die etablierten Parteien, die NPD an Populismus zu überbieten. Aber das wäre nur die marktschreierische Verschärfung eines Problems, statt einer Lösung. Und es ist eine hohe Verantwortung von Politikern, keine falschen Erwartungen zu wecken. Auch zu versprechen, dass die Arbeitslosigkeit binnen kurzer Zeit wieder Richtung Null geht, wäre Scharlatanerie. Außerdem sind wir in einem weltweiten Umwälzungsprozess mit ganz neuen Konkurrenzsituationen, Stichwort Globalisierung. Dagegen anzukämpfen, hieße Kommandowirtschaft wieder einzuführen und eine neue Mauer bauen zu wollen. Dass das nicht geht, haben wir Deutschen hoffentlich gelernt.

Dennoch haben wir gerade eine Umfrage gelesen, dass bis zu einem Viertel der Bundesdeutschen die Mauer wiederhaben wollen?

Nehmen sie solche Umfragen bitte nicht so ernst, schon seit Jahren wird immer wieder behautet, dass die Mauer in den Köpfen der Menschen wächst. Das ist Unsinn. Wir haben aber immer noch unter 40 Jahren getrennter Entwicklung zu leiden,  da sind Lebenseinstellungen im Osten wie Westen gewachsen, die die noch immer sichtbar sind und nachwirken. In Krisenzeiten werden solche Unterscheide oft unfreundlich wahrgenommen, statt heiter.  Unterschiede zwischen anderen Landsmannschaften, seien es Bayern oder Norddeutschen gibt es schließlich auch.


In Polen ist überraschend eine neue Diskussion entbrannt. Sind noch immer Reparationen nötig um Deutschlands Kriegsschuld je wieder gut zu machen? Und in Deutschland werden währenddessen immer wieder Ansprüche der Vertriebenen laut.

Ich war vor einiger Zeit in Breslau, meiner Geburtsstadt.  Dort haben wir auch darüber diskutiert, als ich an der Universitär einen Vortrag hielt. Dort haben mir meine politischen Gesprächspartner gesagt, das dt-polnische Verhältnis ist besser als viele Äußerungen mancher Politiker in Warschau behaupten. Wörtlich hieß es sogar:  Die da in Warschau verderben unser gutes Verhältnis, das wir zum deutschen Nachbarn haben, sei es in der Zusammenarbeit von Universitäten oder beim Kulturaustausch. Ich halte es also für grundfalsch, wenn bestimmte Fragen und Konflikte übertrieben und zu Grundsatzkonflikten aufgebauscht werden, also aus einer Mücke ein Elefant gemacht wird.

Aber auf der deutschen Seite sagt doch Frau Steinbach immer wieder...

....Moment, das ist für mich nicht nachvollziehbar, dass für die Polen Erika Steinbach gelegentlich die wichtigste deutsche Politikerin ist. Dabei ist Frau Steinbach eine Angeordnete, die in Deutschland fast keiner kennt! Nur weil sie etwas über Gebietsansprüche gesagt hat oder sich ein ‚Club Preußischer Treuhand’ plötzlich wichtig tut, heißt das nicht, dass er wichtiger ist, als das deutsche Parlament. Das nenne ich sogar eine Absurdität, wenn ich weiß, dass es in Warschau Politiker gibt, die antideutsche Ängste parteipolitisch ausnutzen wollen um Wahlerfolge zu erzielen. Da sage ich: das deutsch-polnische Verhältnis ist so kostbar, dass man das tunlichst unterlassen soll. Ich habe extra Ende vorigen Jahres eine Begegnung von Politikern des Bundestags und des polnischen Sejms arrangiert, um solche öffentlichen Irritationen miteinander auszuräumen. Wer nicht kam, waren die Vertreter der rechten polnischen Parteien! Es wäre beunruhigend, wenn solche Parteien aufgrund solcher Kampagnen Wahlen gewinnen würden, dann würde gewiss eine schwere Belastung der deutsch-polnischen Beziehungen drohen.

Das klingt hart...

Aber damit Sie mich nicht falsch verstehen: Es wird immer wieder Konflikte geben wegen sachlicher Meinungverschiedenheiten, auch im gut nachbarschaftlichen Verhältnis von Deutschen und Franzosen gehört das dazu. Aber nie dürfen Vorurteile die Politik bestimmen. Auch das hat uns die Erfahrung des Dritten Reiches wahrhaft gelehrt. Außerdem: Der deutsche Bundestag hat einen Beschluss gefasst, ein europäisches Aufarbeitungsprojekt zur Geschichte der Vertreibung zu unterstützen, das ist das Gegenteil  von dem, was Frau Steinbach will. Da sehen Sie, wie die Mehrheitsverhältnisse liegen.

 

Das Berliner Holocaust-Mahnmal hat einen langen Anlauf gebraucht. Warum eigentlich erst 60 Jahre nach dem Krieg? Ist das nicht eigentlich beschämend?

Man kann es beschämend nennen, dass wir es 60 Jahre nach dem Krieg eingeweiht haben. Aber vernünftigerweise sind die ersten Gedenkstätten in den KZs errichtet worden - an authentischen Orten des Geschehens.

Aber diese Gedenkstätten entstanden  häufig nur durch Privatinitiative, der Staat selbst tat sich schwerer. Warum?

Also ich finde das viel sympathischer, wenn Bürger sagen: wir wollen das, als wenn der Staat es diktiert. Und wenn dann darüber diskutiert wird und eine Mehrheit gefunden wird, wie beim Holocaust-Mahnmal ist das für mich ein gesellschaftlich viel überzeugender und glaubhafterer Prozess.

Aber sollte der Bund nicht den Hut aufsetzen, was die generelle Betreuung von Gedenkstätten betrifft?

Auch wenn die Rede von der Notwendigkeit eines nationalen Gedenkstätten-Konzept ist, muss dass nicht automatisch heißen, dass der Bund alle Verantwortung übernehmen soll. Wir haben als sehr hohes Gut die Kulturhoheit der Länder. Und wenn es um deutsche Verantwortung vor der Geschichte geht, darf man die Länder nicht aus ihrer Mitverantwortung entlassen, für mich wäre also eine gemischte Verantwortung ideal.

Herr Bundestagsvizepräsident Thierse, haben Sie herzlichen Dank!


Copyright: www.mut-gegen-rechte-gewalt.de & www.politikorange.de 4.5.2005, aktualisiert 5.11.2007. Foto: W.Thierse bei einer Diskussion in einem Jugendclub in Wolgast 2006 (Kulick)

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Thierse in Jugendclub Wolgast