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"Es scheint, als würde in Deutschland gerade ein letztes Tabu fallen"

Ein Interview der Bundeszentrale für politische Bildung mit Charlotte Knobloch

Von Holger Kulick und Stefan Lampe

Charlotte Knobloch, Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland
Charlotte Knobloch, Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland

Sie sieht viel "Entmutigendes", aber dennoch sagt sie "bleibe ich Optimist". Die Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, über aktuelle antisemitische Vorfälle, aber auch über Zeichen, die sie hoffen lassen

Frau Präsidentin Knobloch, am 29. Januar gedachte der Deutsche Bundestag der Opfer des Nationalsozialismus. Ist das für Sie eher gesellschaftspolitische "Pflichtübung" oder tatsächlich öffentliche Zeichensetzung, die auch einen Bewusstseinswandel in der Bundesrepublik dokumentiert?

Charlotte Knobloch: Für mich ist die Gedenkstunde des Bundestages alles andere als eine "Pflichtübung". Vielmehr machen die gewählten Repräsentanten des deutschen Volkes damit klar, dass sie sich gerade auch als politische Institution ihrer Verantwortung vor der Geschichte unseres Landes bewusst sind.

Wie nehmen Sie Antisemitismus im Alltag wahr? Hat sich da etwas gewandelt, nimmt er zu? Ist er plumper oder intellektueller geworden? Oder beides?

Stellenweise habe ich den Eindruck, dass antisemitische Vorurteile in einigen Gesellschaftsschichten breite Akzeptanz erfahren. Einige Vorfälle wie die Tatsache, dass im vergangenen Jahr ein Schüler in Parey gezwungen wurde, ein Schild zu tragen, dessen diffamierender Wortlaut wörtlich von einem Schild aus dem Jahr 1935 übernommen wurde, erinnern mich tatsächlich an jene Zeit, die ich als Kind erleben musste. An den Schmähbriefen, die bei den jüdischen Gemeinden eingehen, können wir erkennen, dass die Absender inzwischen auch den gebildeten Schichten zuzurechnen sind.

"Du Opfer! Du Jude!" sind immer gängigere Schimpfwörter auf deutschen Schulhöfen, berichten uns Lehrer. Ist das etwas, was auch Mitglieder der jüdischen Gemeinden in Deutschland wahrnehmen? Was hat das für Auswirkungen auf betroffenen Schüler und wie sollte von Lehrern darauf reagiert werden? Was sollte sich an Schulen ändern, um Antisemitismus vorzubeugen? Oder auch in den Medien?

Es scheint, als würde in Deutschland gerade ein letztes Tabu fallen. Ich gehe nicht davon aus, dass alle Schüler, die "Du Jude" als Schimpfwort benutzen, einem rechtsextremen oder neonazistischen Umfeld zuzurechnen sind. Aber offensichtlich fehlt hier Sensibilität und historisches Bewusstsein – nicht zuletzt aus diesem Grund mache ich mich dafür stark, dass wir die Holocaust-Vermittlung an den Schulen überdenken. Die moralische Dimension der Shoa und die Ableitung konkreter ethischer Handlungsanweisungen finden bei der Vermittlung historischer Fakten oftmals zu wenig Beachtung. Wir brauchen ein intensives Nachdenken über die Würde des Menschen, ein Verständnis für das "Wie" und "unter welchen Umständen" wurden und werden Menschen zu Tätern. Es müssen Transferleistungen zu den Herausforderungen der Gegenwart der Schülerinnen und Schüler erbracht werden.

Sie haben im vergangenen Jahr für Aufsehen gesorgt, als Sie sagten, "Antisemitische und rechtsradikale Attacken haben eine Offensichtlichkeit und Aggressivität erreicht, die an die Zeit nach 1933 erinnert." Ist dieser Vergleich für Sie noch aktuell? Und woran machen Sie das fest? Sind Politik und Gesellschaft seitdem wachsamer geworden?

Ich bin bereits darauf eingegangen, dass mich einige Vorfälle wie der geschilderte in Parey mich an die Zeit nach 1933 erinnern. Als Überlebende jener Jahre sind mir jene Szenen viel zu bewusst, als dass keine entsprechenden Erinnerungen geweckt werden würden. Ich habe den Eindruck, als sei meine Warnung auf einige offene Ohren gestoßen – im Frühjahr werde ich etwa bei einer Lehrerfortbildung in Sachsen-Anhalt über die solche Fragen und ihre konkrete Umsetzung im Unterricht sprechen.

"Du kannst also machen, was du willst, du erreichst nichts", formulierte Paul Spiegel einmal. Sie haben auf der Trauerfeier für Paul Spiegel hinzugefügt: "Wie froh hätte es uns alle gemacht, wenn Paul Spiegel diese Erkenntnis erspart geblieben wäre". Teilen sie inzwischen seine Erkenntnis?

Nein. Es gibt nämlich auch die anderen, positiven Entwicklungen, die zeigen, dass jüdisches Leben auch wieder zurückkommt. Deshalb bleibe ich Optimist.

Sie haben einen Demokratiegipfel angemahnt. Weil Sie Demokratie gefährdet sehen? Was sollte zum Kern eines solchen Gipfels gehören? Und wer gehört mit an den Tisch?

Ich habe das damals gefordert, weil ich der Meinung bin, dass wir uns immer wieder bewusst machen müssen, was es bedeutet, dass wir seit knapp sechzig Jahren in einer Demokratie leben dürfen. Das ist keine Selbstverständlichkeit, sondern etwas für dessen Bestand wir uns täglich einsetzen müssen – und mit "wir" meine ich nicht nur die Berufspolitiker sondern wir alle als selbstbewusste Bürger dieses Landes.

Fühlen Sie sich ausreichend ernst genommen, was die Umsetzung eines solche Gipfels betrifft? Und glauben sie, die Bundesregierung nimmt Antisemitismus und Rechtsextremismus ausreichend ernst?

In meinen Gesprächen mit Bundeskanzlerin Merkel habe ich den Eindruck gewonnen, dass sich die Kanzlerin des Problems sehr bewusst ist und ganz konkret an Lösungsvorschlägen arbeitet.

Der Zentralrat der Juden in Deutschland plant u.a. ein Symposium zur Rolle des Iran und der Zukunft im Nahen Osten. Lässt sich schon sagen, wann das sein wird, mit wem und welchem Ziel?

Die Vorbereitungen für eine solche Veranstaltung sind angelaufen. Wir werden die Öffentlichkeit rechtzeitig informieren, wann ein solches Symposium stattfinden wird, und wer die Teilnehmer sein werden.

Wie massiv sehen Sie eine Bedrohung von Juden in Deutschland durch islamistische Antisemiten?

Diese Gefahr gibt es – nicht nur für die jüdischen Bürger Deutschlands. Ich sehe zudem auch die Gefahr, dass sich islamistische Antisemiten mit deutschen Neonazis zu einer bedrohlichen Allianz zusammenschließen.

62 Jahre nach Kriegsende und 68 Jahre nach ihrer Zerstörung gibt es eine Reihe von Synagogeneinweihungen in Deutschland, nächsten Monat in Gelsenkirchen. Erfreut Sie das? Oder beschämt sie das, schließlich passiert es erst 68 Jahre danach…?

Diese Entwicklung freut mich. Ich denke, dass wir sie früher nicht hätten erwarten dürfen. Denn erst heute wissen wir, dass es – auch durch den Zuzug jüdischer Menschen aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion – eine wieder wachsende jüdische Gemeinschaft in Deutschland gibt. Wir zeigen damit, dass es Hitler nicht gelungen ist, uns zu vernichten.

Ist der Zuspruch, den der Synagogenenneubau in München gefunden hat und findet, für sie ein Signal für einen Klimawandel. Oder wäre das eine Selbsttäuschung?

Ich gebe zu, dass mich das enorme positive Echo überrascht hat, das wir bereits während der Bauzeit erleben durften, das aber besonders nach der Eröffnung des Jüdischen Zentrums einfach überwältigend gewesen ist. Allein an unserem ersten Tag der Begegnung durften wir 15 000 neugierige Menschen in unseren Räumen begrüßen. Ich werte dieses Interesse auf jüdischer wie nichtjüdischer Seite als wichtigen Schritt zu einem Dialog und einem Miteinander.

In Potsdam herrscht derzeit Streit innerhalb der jüdischen Gemeinden. Soll viel Geld in eine neue repräsentative Synagoge gesteckt werden? Oder lieber in viele kleine Synagogen, denen Mittel fehlen? Wie könnte ein Kompromiss aussehen?

Zunächst will ich sagen, dass ich mich über jede jüdische Einrichtung freue, die neu entsteht. Allerdings habe ich auch immer deutlich gemacht, dass die Voraussetzungen, um diese Einrichtungen zu betreiben, erfüllt sein müssen. Beim konkreten Fall in Potsdam bin ich überzeugt, dass alle Beteiligten zu einem tragfähigen Kompromiss kommen werden, der rechtzeitig der Öffentlichkeit mitgeteilt werden wird.

Wie lange wird es Ihrer Ansicht nach dauern, dass keine Bewachung mehr vor Synagogen und jüdischen Einrichtungen stehen muss?

Ich bin Realist genug, um hier keine Prognose abgeben zu wollen.

Von aller Post, die der Zentralrat erhält: Was überwiegt da eigentlich? Mutmachendes oder Entmutigendes?

Oft das Mutmachende. In manchen Zeiten – etwa während der Libanonkrise vergangenen Sommer – das Entmutigende.

Hoffen wir auf noch mehr Mutmachendes. Frau Präsidentin Knobloch, haben Sie ganz herzlichen Dank.

Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Bundeszentrale für politische Bildung. Mehr zum Thema auf: www.bpb.de/rechtsextremismus.

© www.bpb.de/rechtsextremismus & www.mut-gegen-rechte-gewalt.de - 2.2.2007