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„Wir stehen alle in der Verantwortung“

Am Mittwoch, den 21. Mai, hat Stefan Aust gemeinsam mit Co-Autor Dirk Laabs das Buch „Heimatschutz. Der Staat und die Mordserie des NSU“ vorgestellt. Umso passender ist es, dass Aust am 9. Juni in Köln bei Birlikte gemeinsam mit Sigmar Gabriel, Mehmet Daimagüler, Anetta Kahane und Hülya Özdag über das Thema „NSU und die Folgen – Was müssen wir lernen?“ diskutieren wird. Ein Interview mit Stefan Aust.

Dutzende Journalisten, Fernsehteams, aber auch Nebenklage-Vertreter des NSU-Prozesses und ehemalige Obleute des NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag: Das Interesse an der Vorstellung des Buches „Heimatschutz. Der Staat und die Mordserie des NSU“ ist immens. Geschrieben haben es Stefan Aust, u.a. langjähriger Chefredakteur des Spiegel, sowie der Autor und Filmemacher Stefan Laabs. In dem Buch versuchen die beiden Verfasser, auf fast 900 Seiten das Puzzle zumindest in Teilen zusammenzusetzen, das der NSU-Komplex immer noch aufgibt. Dabei konzentrieren sich Aust und Laabs auf präzise Beschreibungen und die Darstellung bislang wenig beleuchteter Zusammenhänge, scheuen aber davor zurück, endgültige Schlussforderungen zu ziehen.

Wegen der vielen noch offenen Fragen wünscht sich Aust einen neuen Bundestagsuntersuchungsausschuss. Denn der Abschlussbericht des letzten NSU-Ausschusses sei zwar sehr detailliert und glaubwürdig. „Am Ende aber bleibt das Gefühl: Jetzt muss es richtig losgehen“, so der Journalist. Nach der umfangreichen Recherchearbeit ergebe sich für ihn nicht der Eindruck, dass die Behörden auf dem rechten Auge blind gewesen seien. „Sie haben sich vielmehr beide Augen zugehalten.“

Doch warum jetzt das Buch? Schließlich läuft derzeit noch der NSU-Prozess in München. „Die Leser und Rezipienten oder die Bürger generell haben den Überblick verloren“, glaubt Dirk Laabs. Das Buch wende sich in diesem Sinne an eine breite Schicht, die das Gefühl habe: Hier stimmt etwas nicht.

Und tatsächlich gibt es immer noch viele Ungereimtheiten, wenn es um den NSU geht: Kennt wirklich nur Beate Zschäpe die Wahrheit, wie viele angesichts des Prozesses glauben? Warum ging die Thüringer Justiz so nachsichtig mit Uwe Böhnhardt um, der bereits in jungen Jahren hochkriminell war? Und ist es wirklich möglich, dass nur Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt an den Taten beteiligt waren?

Gerade das Beispiel des Nagelbombenattentats zeige deutlich, dass die Ämter alles taten, um den Eindruck zu verhindern, dass es ein rechtsextremes Motiv gebe, so Aust. Noch in einer ersten Pressemitteilung nach dem Anschlag war ein solcher Hintergrund nicht ausgeschlossen worden. „Diese Pressemitteilung wurde aber schnell einkassiert“, beschreibt Aust. Nach einem nachgewiesenen Gespräch zwischen dem Bundesverfassungsschutz und dem zuständigen Landesverfassungsschutz sei die Sprachregelung entstanden, dass die Täter im Bereich der organisierten „Ausländer-Kriminalität“ zu suchen seien. Aust betont: „Ich bin überzeugt, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz um den wahren Hintergrund wusste.“ Doch damals habe man alles unter dem Deckel halten wollen. „Es hätte doch einen Aufruhr gegeben, wenn bekannt worden wäre, dass rechtsradikale Serienmörder durchs Land ziehen“, beschreibt Aust die möglichen Ängste der Verantwortlichen. Vor allem aber sei der Verfassungsschutz mit seinen zahlreichen V-Leuten selbst zu nah an der rechten Szene dran gewesen. Diese sollte unterwandert und kontrolliert werden – und das um jeden Preis.

„Das unter dem Deckel Halten, das im Fall der Keupstraße stattfand, kann man auch derzeit beobachten“, ergänzt Aust. Es gebe zwei tote Täter und die seien sehr bequem. „Daneben gibt es aber vielleicht noch andere Täter, die noch lebend herumlaufen.“ Im Fall der Keupstraße zeigt sich auch die enge Verbindung zum Verfassungsschutz: So wurde nach dem Anschlag ein Video mit den Tatverdächtigen auf die Homepage der Polizei gestellt – wie üblich in solchen Fällen. Ebenfalls wie üblich wurde überwacht, ob jemand das Video besonders oft aufruft. Das war tatsächlich der Fall: Mitarbeiter des Verfassungsschutzes schauten sich das Video besonders oft an.

„Ein Anliegen des Buches ist es, dass der öffentliche Druck steigt, damit die Dinge ans Licht kommen“, unterstreicht Dirk Laabs. Aber sind vielleicht auch Veranstaltungen wie Birlikte ein Mittel, um diesen Druck aufzubauen? Im Interview mit birlikte.info erklärt Stefan Aust: „Druck ist vielleicht nicht der richtige Begriff, sondern vielmehr Aufmerksamkeit.“ Die Politik müsse wissen, dass es öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema gebe. „Und dafür ist eine Veranstaltung wie Birlikte natürlich geeignet.“

Nun geht es bei Birlikte vor allem auch darum, Solidarität mit den Betroffenen zu zeigen. Diese haben in den Jahren nach dem Anschlag in der Keupstraße vor allem ein Klima der Verdächtigungen und des Misstrauens erlebt – und infolgedessen das Vertrauen in den Staat, aber auch die Medien verloren. „Ich kann den Vertrauensverlust natürlich nachvollziehen“, so Aust. Das Schlimmste sei hier gewesen, dass man die durchaus vorhandenen Spuren, die in die rechte Szene wiesen, nicht verfolgt habe.

In den Medien hätte man sich nicht genug mit den unaufgeklärten Morden beschäftigt, „das gilt auch für mich“, gibt Aust selbstkritisch zu. Zudem es sich um eine Mordserie mit einer symbolischen Absicht gehalten habe, so der Journalist im Interview. „Sie haben immer die gleiche Waffe benutzt, doch diese Zusammenhänge hat man nicht gesehen.“ Unter diesem Gesichtspunkt sei auch eine Verbindung ins organisierte Verbrechen unlogisch, denn gerade dann wäre die Benutzung der immer selben Waffe auffällig gewesen.

„Wir alle stehen nun in der Verantwortung: Journalisten, Politik, … Auch, wenn es wahrscheinlich nie eine vollständige Aufklärung geben wird“, so der Journalist pessimistisch. Was Stefan Aust nun genau unter dieser Verantwortung versteht und welche weiteren Folgen sich aus den NSU-Verbrechen ergeben – das wird er vielleicht bei der großen Birlikte-Podiumsdiskussion erzählen. Diese findet am 9. Juni um 12 Uhr im Kölner Palladium statt. Gemeinsam mit dem SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel, dem Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler, Anetta Kahane, Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung und Hülya Özdag, Geschäftsfrau auf der Keupstraße wird Aust in Köln über das Thema „NSU und die Folgen – Was müssen wir lernen?“ reden. Moderiert wird die Podiumsdiskussion von Hans-Ulrich Jörges, Mitglied der stern-Chefredaktion.

Das Interveiw führte Alice Lanzke.

Zuerst erschienen auf birlikte.info.

Foto: HagenU (CC BY 3.0)

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