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"Birlikte ist eine überfällige Geste an die Betroffenen“

Pfingsten findet das Fest "Birlikte - Zusammenstehen" in Köln statt. Es erinnert an den NSU-Anschlag 2004. Kabarettist Serdar Somuncu erzählt, warum er mitmacht und ihn Drohungen nicht schrecken.

Bei der Birlikte-Kundgebung am Pfingstmontag wird auch Serdar Somuncu auftreten: Der türkische Kabarettist, Musiker, Schauspieler, Schriftsteller und Regisseur, der durch seine Lesungen aus Hitlers „Mein Kampf“ bekannt wurde, spricht im Interview über die Bedeutung von

Herr Somuncu, Sie treten am 9.6 bei der großen Birlikte-Kundgebung auf. Warum?
Serdar Somuncu: Das ist eine gute Frage. Ich habe eigentlich gar nicht lange darüber nachgedacht, sondern spontan aus dem Bauch heraus entschieden. Grundsätzlich gibt immer mein Gefühl den Ausschlag- und das hat in dem Fall gesagt, dass es nach den verhaltenen Reaktionen aus der Politik vor zwei Jahren Zeit für ein Zeichen aus der Bevölkerung ist. Zudem können wir Künstler ganz anders über das Thema sprechen als etwa Politiker.

Was will der Künstler also bei Birlikte ansprechen?
Es geht darum, zehn Jahre nach dem Anschlag in der Keupstraße ein Zeichen zu setzen. Das muss nicht nur aus Respekt vor den Betroffenen gemacht werden, sondern auch als Signal nach außen. In Deutschland gibt es keinen Platz für hohle Parolen und Gewalt gegen Minderheiten. Denn nicht zuletzt die Europawahl hat gezeigt, dass es gerade europaweit eine Entwicklung zu rechten Positionen, Nationalismus und Kleinstaaterei gibt.

Sie sprechen die Europawahl selbst an: Macht Ihnen zum Beispiel das Wahlergebnis in Frankreich, aber auch das Abschneiden der AfD in Deutschland Sorgen?
Mich besorgen eher die Töne, die im Umfeld solcher Diskussionen wie bei Sarrazin, Buschkowsky oder aktuell Pirincci zu Tage kommen. Das sind Stimmen, die nicht nach Ursache und Wirkung unterscheiden und generell sehr undifferenziert sind. Mit einseitigen Schuldzuweisungen schüren wir vor allem ein Klima des Misstrauens und das finde ich ungerecht und unangemessen.

Was meinen Sie mit „unangemessen“?
Wir haben mit unserer historischen Vorbelastung auch eine Verantwortung, filigraner mit entsprechenden Debatten umzugehen. Deutschland kann man dabei wie ein Vergrößerungsglas sehen für Themen, die in ganz Europa diskutiert werden. Aber gerade hierzulande dürfen wir nicht in einfaches Schwarz-Weiß-Denken verfallen.

Nun haben Sie bei Ihren Auftritten, etwa den Lesungen aus Hitlers „Mein Kampf“, aber auch mit ganz anderen Bühnenprogrammen, bereits oft Besuch von Neonazis bekommen und sind auch sonst schon häufig bedroht worden. Macht Ihnen das keine Angst?
Ich gehe gelassen, aber nicht unvorsichtig damit um. Immer wieder werde ich zitiert mit dem Satz „Jede Minderheit hat ihr Recht auf Diskriminierung“ – und viele Gruppen wollen die Ironie darin nicht verstehen. Das sind gar nicht unbedingt nur Rechtsextreme, sondern auch viele andere, die damit nicht umgehen können. Die Palette reicht da vom Neonazis bis zum Veganer, die mich mit dem Tod bedrohen. Humorlosigkeit ist offensichtlich keine Frage der politischen Gesinnung.

Aber kommt man nicht irgendwann an den Punkt, angesichts dieser Drohungen hinwerfen zu wollen?
Natürlich will man auch mal den Schwanz einziehen, aber wenn man so einen Weg geht, muss man ihn auch bis zum Ende gehen. Zumal es für mich eine Kapitulation wäre, würde ich aufgeben.

Sind Sie für ein NPD-Verbot?
Nein. Denn das Verbot würde nicht das ganze Problem lösen. Mir ist es auch lieber, mit der NPD eine Partei zu haben, die beobachtet werden kann, als dass sich deren Anhänger in der AfD verstecken und „liberal“ nennen.

Im Zusammenhang mit dem Anschlag in der Keupstraße, aber auch den anderen NSU-Verbrechen war immer wieder davon zu lesen, dass die Betroffenen zu Tätern gemacht wurden. Wie kann der daraus folgende Vertrauensverlust bekämpft werden? Oder: Was muss sich nach dem NSU ändern?
Ich wünsche mir einen bewussten Umgang mit der Vergangenheit und die Einsicht, dass diese Vergangenheit mit unserer Gegenwart verknüpft ist. Um das deutlicher zu machen: Rechtsradikale Gewalttaten sind nur die Spitze des Eisbergs, an erster Stelle stehen die entsprechenden Gedanken – und über diese können wir sprechen. Es gibt gewachsene Strukturen bei uns, die Ausländerfeindlichkeit, Xenophobie und andere Formen von Diskriminierung fördern. Das Fundament für diese Strukturen wurde in unserer Vergangenheit gelegt – das müssen wir thematisieren.

In dem Zusammenhang: Reden wir derzeit zu viel über den NSU und zu wenig über den Rassismus in der Mitte der Gesellschaft?
Ich wäre vorsichtig damit, der Gesellschaft pauschal Rassismus zu unterstellen. Aber dennoch besteht schon die Gefahr, dass wir nur über den NSU reden und darüber aus den Augen verlieren, zu welchen Anlässen sich latenter Rassismus zeigt. Ich denke da etwa an die Zuwanderungsdebatte, die auch vor der letzten Europawahl wieder verstärkt geführt wurde. In Online-Foren und Kommentaren zeigen sich dann extreme Meinungen, die leider oft unwidersprochen bleiben. Dennoch gibt es meiner Meinung nach einen großen schweigenden Teil der Bevölkerung, der gegen solche Tendenzen ist. Nur ist dieser Teil nicht so laut, weil er eben keine extremen Ansichten vertritt. Ich würde mir aber wünschen, dass er sich häufiger zu Wort meldet.

Wenn Sie vom schweigenden Teil der Bevölkerung reden, wie ließe sich dieser dann aktivieren?
Indem man Bewusstsein schafft für das, was Tatsachen und was bloße Behauptungen sind. Nehmen Sie die Argumente von Menschen wie Sarrazin oder jetzt Pirincci. Viele der Positionen, die diese vertreten, sind einfach Pauschalisierungen, die man schnell entlarven kann – indem man sie etwa mit Argumenten und Zahlen widerlegt. Oder indem man die Widersprüche aufdeckt: Wie können etwa Ausländer zum einen Arbeitsplätze stehlen und zum anderen unsere Sozialsysteme ausnutzen und auf der faulen Haut liegen? Solche Widersprüche muss man deutlich machen. Und wenn Neukölln überall ist, muss dann nicht auch Zwickau überall sein?

Aber wer soll das tun?
Hier steht jeder Einzelne in der Verantwortung: Wir die Bürger, die Politik, die Medien. So muss etwa die Presse nicht jeden Autor, der gerade extreme Meinungen vertritt, um sein Buch zu vermarkten, in eine Talkshow einladen. Und so lange die Politik es nötig hat, Stimmen am rechten Rand zu fischen, sind wir noch anfällig für Diskussionen, die uns andere aufdrücken.
Bei meinen Tourneen merke ich immer wieder, dass große Teile der Bevölkerung ein Bild von der Gesellschaft haben, das stark von der Realität abweicht. Während wir z.B. auf der einen Seite immer noch ein unterschätztes Problem mit Rechtsextremismus haben, wird die Angst vor Überfremdung oft maßlos übertrieben. Auch der Staat hat dieses Problem lange Zeit verdrängt und abgeschoben. Ich bin nun dorthin gegangen, wo es sich in neuralgischen Punkten manifestiert und habe immer wieder gemerkt, dass es eine immense Gesprächsbereitschaft gibt. Etwa zu den Fragen, wie wir heute über die Zeit zwischen 1933 und 1945 reden oder aber welche Verantwortung wir heute noch für jene Zeit tragen. Je mehr und je offener man diese Fragen diskutiert, umso transparenter und ungefährlicher werden extreme Haltungen. Dieser offene Umgang bietet schließlich auch eine gesamtgesellschaftliche Perspektive.

Was meinen Sie damit?
Ich meine, dass es nicht darum geht, eine normierte deutsche Identität wiederherzustellen, sondern darum, was die deutsche Identität 2014 ist. Sie ist sehr bunt und umfasst die unterschiedlichsten Menschen. Die Beantwortung dieser Frage ist richtungsweisend auf dem Weg in eine aufgeschlossene und pluralistische Gesellschaft und sie ist eine Aufgabe, die für unser Selbstverständnis fundamental ist.

Kann Birlikte hier eine Antwort geben?
Birlikte ist ein richtiger Weg, zumindest richtiger als alles, was die Politik bisher versucht hat. Das war von Solingen bis Mölln bislang eher marginal. Von daher ist die Veranstaltung eine längst überfällige Geste an die Betroffenen, die mir bislang fehlt – auch in anderen Zusammenhängen. Und Birlikte ist Teil einer Sache, die ich wichtig finde, aber Birlikte ist nicht das Ganze. Die Veranstaltung gehört vielmehr auch dazu, will man dem Bild eines aufgeschlossenen Deutschlands gerecht werden. Aber dafür sind nicht nur drei Tage, sondern wahrscheinlich drei Generationen nötig.

Ist das nicht etwas pessimistisch?
Nein, denn es geht um eine Haltung, die heranwächst, nicht um eine Anstrengung. Wenn wir heute kapiert haben worum es geht, heißt es nicht, dass wir es morgen schon wieder vergessen sollten. Ich beobachte zum Beispiel, dass Deutschland sehr feinfühlig geworden ist für bestimmte Entwicklungen. Wenn das so bleibt, ist das sehr positiv – aber noch lange kein Grund, sich auszuruhen.

Das Interview führte Alice Lanzke.
 
Die wichtigsten Infos zu Birlikte
Was im Einzelnen am Wochenende neben dem Konzert und der Demonstration am Pfingstmontag in Köln passieren wird, erfahren Sie auf folgenden Webseiten:

Zuerste erschienen auf stern.de.

Foto: © Codeispoetry/ CC BY-SA 3.0

Serdar Somuncu ist Musiker, Autor, Regisseur, Schauspieler, Kabarettist und Synchronsprecher. Der 46-Jährige wurde in Istanbul geboren und studierte in Maastricht und Wuppertal Musik, Schauspiel und Regie. © Codeispoetry/ CC BY-SA 3.0