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Kampf um die Würde ernst nehmen – auch da, wo es wehtut


Eine Demokratiebewegung, die sich ernst nimmt, wird die bürgerliche Stube verlassen und sich auf das Abenteuer der Konfrontation mit dem Leben der Anderen einlassen müssen. Eine Rezension.

Von Dierk Borstel

Der Mensch will seinem Leben einen Sinn geben. Das klingt banal; ist aber schwierig für die Gruppe derjenigen, die von Soziologen als die „Überflüssigen“ (Heinz Bude) bezeichnet werden. Besonders in Orten der systematischen Deindustrialisierung finden sich heute Menschen, an denen der Zug der Zeit vorbeigerauscht zu sein scheint und die mit dem Tempo gesellschaftlicher Entwicklung nicht Schritt halten konnten. Im Osten gilt dies zum Beispiel für diejenigen im ländlichen Raum, die sich auf ein Leben auf der LPG eingerichtet hatten und nach deren Umbau zum hochmodernen Betrieb ohne jede berufliche und soziale Einbindung da standen. Man kennt das Phänomen aber auch aus dem Westen. In Pirmasens beispielsweise prägte die Lederindustrie Generationen von Familien und gab ihnen soziale und finanzielle Sicherheit. Die Industrie ist weg; aber die Menschen sind noch da und sie wissen, sie werden nicht mehr gebraucht. Sie sind überflüssig, aber noch am Leben.

Unter sich bleiben

Wie steht es nun um ihre Sinnsuche? Die individuelle Verarbeitung ist natürlich unterschiedlich. Der Mensch braucht drei Formen von Anerkennung: eine finanzielle, eine soziale und eine emotionale. Manchen gelingt die Kompensierung des einen Defizits durch die beiden anderen Formen der Anerkennung, zum Beispiel durch ihr Engagement für andere oder die Einbindung in ihre Familien und Nachbarschaften. Vielen gelingt das aber auch nicht und ihr Verhalten wird destruktiv. Sie ziehen sich zurück, flüchten in Alkohol, Frustration und Depression. Diese Personenkreise ballen sich dann schnell da, wo die Mieten für sie noch bezahlbar sind und der nächste Kreislauf tritt in Kraft. Solche Wohngebiete drohen zu kippen. Die Integrierten ziehen dahin, wo es sich besser leben lässt und die Überflüssigen bleiben unter sich und bestätigen sich gegenseitig.

Politisch gefährlich

Solche Situationen sind nicht nur sozial und individuell desaströs, sondern auch politisch gefährlich. Denn: wer vertritt denn dieses Milieu noch in seinen Interessen? Oder genauer ausgedrückt: Wem gelingt denn überhaupt noch der Zugang? Für eine Demokratie, die sich selbst ernst nimmt, ist diese Frage überaus wichtig. Im Osten gelingt mancherorts noch der „Linken“ durch alte Netzwerke der Bezug zu diesen Gruppen. Dort, wo er bröckelt, steht die NPD bereit. Sie ist derzeitig die einzige, ernst zu nehmende politische Kraft, die sich explizit um die Vertretung der Überflüssigen bemüht und das ist gefährlich. Die Suche nach einer Lösung muss somit beginnen.

Einen Anfang macht Thomas Ruppenthal in seiner sozialen Kampfschrift „Die Umkehrung des Domino-Effekts. Eine Idee setzt sich durch“. Darin plädiert er nachdrücklich für eine aufsuchende Sozialarbeit in diesen sozialen Brennpunkt und beschreibt eindrucksvoll, dass die Menschen vor Ort – entgegen der Ansicht einiger Vertreter der etablierten Volksparteien – durchaus noch ansprechbar sind. Das Instrument dazu mutet denkbar einfach an: Man muss nur zu ihnen hingehen, ihnen zuhören, den Kontakt suchen, sie ernst nehmen und sie nach konkreten Wünschen fragen und ihnen Hilfe bei der Verwirklichung anbieten. Dann bekäme man auch Ansätze für Projekte, Vertrauen und Unterstützung vor Ort. Diese Arbeit klingt einfach, ist aber zeitintensiv und nicht immer angenehm.

Anspruch auf Würde und Teilhabe

Die derzeitige Demokratiebewegung ist vor allem eine bürgerliche Erscheinung. Man trifft sich in den bürgerlichen Räumen, Runden und bleibt weitestgehend unter sich. Das ist besser als keine Bürgergesellschaft. Für die Demokratie muss aber auch dort gekämpft werden, wo Kinder kein Mittagessen mehr kriegen, die Väter saufen, die Mütter nicht mehr weiter wissen und wo es auch mal nach Schmutz, Schweiß und fehlender Zahnhygiene riecht. Auch da ist das Leben und auch da haben die Menschen Anspruch auf Würde, Teilhabe und Anerkennung.

Ruppenthal plädiert deshalb für eine neue Bewegung der Aufsuchenden und Helfenden, die sich vor allem begründet in der christlichen Lehre um die Überflüssigen kümmert. Tatsächlich gibt er in seinem Buch wichtige Hinweise für eine begründete Neuausrichtung der Kirchen. Der Bewegungsgedanke sollte aber weiter gefasst werden. Jesus lehrt Empathie mit den Schwachen. In der Sprache der Demokratie deckt sich dieser Punkt mit dem Anspruch der Unantastbarkeit der Würde des Einzelnen, einem Schutzrecht nicht für die Starken, sondern für die Schwachen in der Gesellschaft. Eine Demokratiebewegung, die sich ernst nimmt, wird die bürgerliche Stube verlassen und sich auf das Abenteuer der Konfrontation mit dem Leben der Anderen einlassen müssen. Nur dann kann es gelingen, tatsächliche demokratische Standards zu setzen und gleichzeitig der NPD das Alleinvertretungsmonopol für die Überflüssigen zu entziehen. Ruppenthals Schrift kann dafür wichtige Hinweise liefern.

Thomas Ruppenthal (2010): Die Umkehrung des Domino-Effekts. Eine Idee setzt sich durch, Rostock, Rinck Verlag, ISBN 978-3-9811262-2-8, 9,95 Euro, 126 Seiten

Foto: von TobiWanKenobi, via wikipedia, cc


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Dr. Dierk Borstel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld sowie Vorsitzender des Vereins „Communitiy Coaching“.
 

Demokratie im ländlichen Raum

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