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Birlikte 2015: Über 80.000 sagen „ja“ zum Zusammenleben

Über 80.000 Menschen haben beim Birlikte-Fest am 14. Juni in Köln-Mülheim ein deutliches Zeichen gegen Rassismus und Ausgrenzung gesetzt. Mit unzähligen Konzerten, Diskussionen, Tanz, Literatur und Theater wurde die zweite Auflage von Birlikte gefeiert. Das bunte Fest bot aber auch viel Raum zum Gedenken an den NSU-Nagelbombenanschlag in der Keupstraße.

Von Alice Lanzke
 
„Ich dachte, so was passiert nicht bei uns. Nicht mal in Köln, die armen Leute, Mann. Das hätte auch ich sein können.“ Als Eko Fresh beim Abschlusskonzert von „Birlikte 2015“ gemeinsam den Song „Es brennt“ performt, in dem er seine Reaktion auf das NSU-Nagelbombenattentat in der Kölner Keupstraße beschreibt, wird das eben noch ausgelassen tanzende Publikum nachdenklich ruhig. Bei vielen Menschen ist Kopfnicken zu sehen, als der Musiker sein Entsetzen über die Ermittlungsarbeit und die Berichterstattung in den Medien ins Mikrofon rappt: „Weißt du wie es ist? Dich lässt der Rechtsstaat im Stich. Du hast knapp überlebt und sie verdächtigen dich. Zehn Menschen tot, als die Behörde scheinbar schlief. Irgendwie fies, dass man danach was von Dönermorden liest. Habt ihr mal dran gedacht, wie die Familien sich gefühlt haben, als ihre Väter so früh starben?“

Mit dem gemeinsamen Konzert von Eko Fresh und Brings endete die zweite Auflage von Birlikte, dem Kunst- und Kulturfest, mit dem in und um die Keupstraße an das Nagelbombenattentat des NSU vor elf Jahren erinnert wurde. Gleich zu Beginn hatte die Initiative „Keupstraße ist überall“ zu einer großen Podiumsdiskussion unter dem Titel „Sprechen wir über Rassismus“ geladen. Erschütternd waren dabei die Berichte von Kemal G. und Arif S., die beide den Anschlag unmittelbar erlebten und erzählten, wie sie danach von der Polizei behandelt wurden. „Ich hätte mir nach dem Anschlag psychologische Hilfe gewünscht, anstatt vernommen zu werden. Noch jetzt zittere ich, wenn ich darüber spreche“, beschrieb Arif S. Sieben Jahre lang seien die Bewohner der Keupstraße selbst verdächtigt worden, anstatt den rechtsextremen Hintergrund der Bombe anzuerkennen. Diese Erfahrungen mussten auch andere Angehörige von NSU-Opfern machen. So wurde etwa die Frau von Enver Şimşek, dem ersten Mordopfer des NSU, noch am Krankenbett ihres sterbenden Mannes von der Polizei zum Verhör gezerrt. Seda Basay-Yildiz, Nebenklage-Anwältin im NSU-Prozess, zeigte sich bei der Diskussion immer noch fassungslos, als sie die Erfahrungen ihrer Mandanten teilte.
 
Nicht minder entsetzt zeigte sich Stefan Kuhn, ein weiterer Rechtsanwalt der Nebenklage. Im ISS-Bildungszentrum fasste er die Ergebnisse der Beweisaufnahmen zum Keupstraßen-Komplex zusammen. „Die Tatort-Bilder zeigen eindeutig, welche Sprengkraft die Bombe hatte – und welche Intention“, so Kuhn. Es sei ein Wunder, dass es am 9. Juni 2004 keine Todesopfer gegeben hätte. Schon am ersten Tag habe es genug Hinweise gegeben, die auf einen rechtsextremen Hintergrund der Tat hindeuteten. Der Umgang mit den Betroffenen sei eine Schande gewesen, kritisierte er. An eine Verschwörung glaube er indes nicht, das Problem liege vielmehr in den rassistischen Strukturen. „Der Prozess in München hat nun diesen strukturellen Rassismus offenbart, wer das leugnet, hat den Prozess nicht beobachtet.“

Offizielle Eröffnung von “Birlikte”
 
Der Anwalt sagte außerdem, er wissen nicht, ob der NSU-Prozess nun zu einem Umdenken in der Gesellschaft führe. Doch eben dieses Umdenken soll auch durch Aktionen wie Birlikte angetrieben werden. So erklärte Thomas Laue, Dramaturg am Schauspiel Köln aus dem Aktionsbündnis: „In Köln sagt man: ‚Was zweimal passiert, ist Tradition’.“ Laue drückte damit den Wunsch vieler aus, dass Birlikte eine Fortsetzung findet. Meral Sahin von der IG Keupstraße betonte bei der offiziellen Eröffnung des Fests, dass der Tag einen traurigen Anlass habe, Birlikte es aber geschafft habe, etwas Positives daraus zu machen. „Aus dem Zusammenstehen wird langsam Zusammenleben“, freute sie sich. Oberbürgermeister Jürgen Roters freute sich sichtlich über die gelungene Veranstaltung. „Alle, die heute gekommen sind, wollen ins Gespräch kommen“, sagte er. Dass die Kölnerinnen und Kölner gegen aktuelle Phänomene wie „Kögida“ und „Pegida“ zusammenstünden, hätte seine Wurzeln in Birlikte. In dem Zusammenhang unterstrich NRW-Kulturministerin Ute Schäfer, dass die Gesellschaft weiter wachsam sein müsse. „Dieses Festival ist dafür ein wunderbares Signal.“
 
Stefan Bachmann, Intendant des Schauspiels Köln, beschrieb in seiner Rede die bunte Mischung aus Gedenken und Trauern, aber auch die positiven Gefühle, die das Fest auszeichnen würden. Norbert Fuchs, Bezirksbürgermeister von Mülheim, ergänzte, dass Birlikte zeige, dass ein friedliches Zusammenleben möglich sei.
 
Bewegend wurde die Eröffnung von Birlikte durch das Gedenken an Mehmet Karapinar. Der beliebte Polizist hatte zu Birlikte im vergangenen Jahr die Idee für ein gemeinsames Konzert des Landespolizeiorchesters und des türkischen Nationalorchesters. Er starb vor wenigen Wochen überraschend nach kurzer Krankheit. „Die polizeiliche Arbeit nach dem Anschlag hat das Vertrauen der Menschen erschüttert“, gab Kölns Polizeipräsident Wolfgang Albers zu. „Mehmet Karapinar hat daran gearbeitet, dieses Vertrauen wiederherzustellen.“
 

Umjubelter Auftritt von “Kasalla”
 
Doch „Birlikte“ bot auch genug Gelegenheit, miteinander zu feiern: Auftritte von Bands wie Kasalla, Die Höhner, Zeltinger, Bläck Föös, Kent Coda und dutzenden anderen brachten die Besucherinnen und Besucher des Fests zum Tanzen. Daneben informierten zahlreiche Initiativen über ihre Arbeit, während an ungewöhnlichen Orten der Keupstraße Lesungen und Theaterstücke veranstaltet wurden. So schuf das „Birlikte“-Fest eine ganz besondere Atmosphäre in und um die Keupstraße, die dazu einlud, miteinander ins Gespräch zu kommen. Beim umjubelten Auftritt von Microphone Mafia in einem Hinterhof der Straße brachte Sänger Kutlu Yurtseven daher die Gefühle nicht weniger Teilnehmender zum Ausdruck, als er sagte: „Es muss jedes Jahr Birlikte geben, es muss jedes Jahr an die Attentate und die Opfer rechter Gewalt erinnert werden, denn es gibt kein Zusammenleben ohne Erinnerung.“
 

“Microphone Mafia” bei Birlikte
 
Microphone Mafia waren zuvor schon gemeinsam mit der KZ-Überlebenden Esther Bejarano aufgetreten. Ihr Vortrag von „Sag mir, wo die Blumen sind“ im Depot 2 des Schauspiels Köln rührte nicht wenige im Saal zu Tränen. Beim Konzert mischten sich kölsche Zeilen mit türkisch-deutsch-italienischem Hip-Hop und jüdischen Volksliedern, gewürzt mit einigen bissigen Kommentaren von Alparslan Babaoglu-Marx alias „Der Integrator“. Heraus kam eine ebenso bunte wie politische und engagierte Mischung – eben typisch Birlikte.