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Schöner, neuer Faschismus

von Michael Kraske

Wahlerfolge für die AfD sind kein Ausdruck demokratischer Normalität, sondern einer Radikalisierung des Landes. Um die Demokratie zu deformieren, braucht es keinen neuen Führer, nur völkische Ideologie und die Gleichgültigkeit der Demokraten. Es wird Zeit, die Bedrohung durch die Neue Rechte endlich ernst zu nehmen.

Ja, die AfD trifft ganz offenkundig einen Nerv. Die Partei ist Seismograph für das Unbehagen gegen „die da oben“, für die Sehnsucht nach einer Gemeinschaft, in der das Böse vermeintlich am fremdartigen Aussehen erkennbar ist, und für die Rebellion der Abgehängten, die ahnen, dass nicht nur sie, sondern auch ihre Kinder ganz unten bleiben werden. Da, wo es schlechte oder keine Arbeit gibt und wo dem fragilen „Ich“ nur die Liebe zur Heimat bleibt, die es vor Fremden und Eindringlingen zu verteidigen gilt. Und sie ist Auffangbecken für alle, die weniger oder gar keine Flüchtlinge wollen. Insofern liefern die Wahlerfolge für die AfD ein ehrliches, ungeschöntes Bild von Deutschland, das doch so gerne ein Sommermärchen wäre. In Wahrheit sind wir zerrissen. Auf der einen Seite diejenigen, die ein modernes Deutschland mit einer pluralistischen Gesellschaft wollen. Immer noch die Mehrheit. Und auf der anderen Seite die wachsende Zahl der anderen, die wieder deutsches Blut für deutschen Boden fordern.

Das aber ist nicht Ausdruck einer wiederhergestellten Normalität, wie abwiegelnd behauptet wird, und die Gewöhnung an Wahlerfolge sogenannter Rechtspopulisten macht deren Inhalte nicht weniger radikal. „Er ist wieder da“ heißt ein Roman über die Rückkehr Adolf Hitlers ins heutige Deutschland. „Es ist wieder da“ beschreibt viel besser, was gerade passiert. Völkische Ideologie und Demokratieverachtung sind zurück und gebärden sich als Mehrheitsmeinung. Die AfD ist keine neue NSDAP und in ihren Reihen finden sich mehrheitlich keine schreienden Männlein mit Oberlippenbart. Sehr wohl jedoch ein AfD-Funktionär, der in Leipzig mit dem Nummernschild L-AH-1818 rumfährt. In der rechten Szene steht die Buchstabenkombination AH für Adolf Hitler, ebenso wie die Zahlenkombination 18. Das mag Zufall sein oder geschmacklose Provokation oder Ausdruck der Gesinnung. Sehr wohl findet sich in der AfD ein Rassentheoretiker, der nicht nur Afrikanern biologistisch die „Reproduktionsstrategie“ eines „Ausbreitungstyps“ andichtet wie in unseligen Zeiten, sondern auch in Anlehnung an das „tausendjährige Reich“ die tausendjährige Geschichte deutscher Städte beschwört. Eine lächerliche Goebbels-Karikatur, sicher, aber durchaus erfolgreich.
 
Wir sind die Deutschen!
Wichtiger als diese diskursiven Totalausfälle ist, wofür die AfD inhaltlich steht. Ihr Vize Alexander Gauland hat sich in einer Rede positiv auf eine Zeile aus dem Liedtext der Neonazi-Band „Gigi und die braunen Stadtmusikanten“ bezogen, in dem es heißt: „Heute sind wir tolerant und morgen fremd im eigenen Land“. Neonazis zu zitieren spricht für sich. Wer das tut, macht sich mit ihnen gemein. Sieht man darüber aber mal großzügig hinweg, bleibt als ideologischer Kern: Das Deutsche muss geschützt werden vor dem und den Fremden. Oder wie Gauland es sagt: „Es ist ihre Aufgabe, in den Kirchen dagegen zu wirken, dass dieses Land von der Erde verschwindet und sozusagen nur noch irgendeine uns fremde Bevölkerung hier lebt. Wir sind die Deutschen. Und wir wollen es bleiben!“ Er warnt vor einer „Politik der menschlichen Überflutung“ und nimmt dabei in Kauf, Menschen auf der Flucht mit einer Naturkatastrophe gleichzusetzen und auf diese Weise Ängste zu schüren, die sich in Gewalt entlädt.

Das Konstrukt einer bedrohten deutschen Kultur und Identität findet sich bei Gauland ebenso wie bei Thilo Sarrazin oder der sogenannten Identitären Bewegung. Die raunenden Untergangs-Propheten fürchten die „Umvolkung“ oder die Abschaffung Deutschlands oder den „Volkstod“, je nach Hang zur Dramatik. Stets wird der Vorwurf, rassistisch zu argumentieren, empört zurückgewiesen. Im Gegenteil fordere man ja lediglich eine Art Selbstbestimmungsrecht für jede Kultur und jedes Volk. Egal, ob für Deutsche, Mecklenburger, Schotten oder Südtiroler. Aber dieses vermeintliche Freiheitsrecht ist bei genauerem Hinsehen ein Kollektivzwang, der die grundgesetzlich garantierten, individuellen Freiheitsrechte außer Kraft setzt. Das Grundgesetz garantiert nämlich dem Individuum Würde, Freiheit des Wortes und Schutz vor Diskriminierung, unabhängig von dessen Herkunft. An keiner Stelle wird der Schutz ethnischer Homogenität oder einer wie auch immer gearteten deutschen Kultur garantiert.
 
Schicksalsgemeinschaft reloaded
Alexander Gauland ruft öffentlich dazu auf, das Erbe der Väter und Vorväter zu bewahren. Das ist ebenso zynisch wie geschichtsvergessen. Nun haben unsere Väter oder Großväter nämlich befeuert von einer nationalistischen und rassistischen Ideologie Krieg, Vernichtung und Massenmord über Europa gebracht und einen schrecklichen Preis dafür bezahlt. Mein eigener Großvater litt in russischer Kriegsgefangenschaft, die Familie musste flüchten und wurde auseinandergerissen. Die Großväter haben uns ein katastrophales Erbe hinterlassen, das eben nicht bewahrenswert war, sondern einen radikalen Traditionsbruch erforderte sowie einen Neuanfang mit humanistischen und demokratischen Werten. Gauland dagegen beschwört die vom Blut gebildete Schicksalsgemeinschaft, um seine Anhänger gegen Migranten zu mobilisieren: „Wir sind nicht gegen Fremde. Aber es ist unser Land! Und es ist unser Volk! Und es ist nicht das Land von Fremden.“ Als wollte irgendjemand den Deutschen ihr Land wegnehmen. Als könnten nicht auch Migranten gleichberechtigte und verlässliche Mitbürger werden. Als gebe es nur wir gegen die, deutscher Freund gegen fremden Feind.

Der Schutz des deutschen Volkes vor „Vermischung“, „Überflutung“ oder „Bevölkerungsausaustausch“ ist klassisch völkische Ideologie – und die wirksamste Werbebotschaft der Neuen Rechten. Sie ist weder harmlos noch hat sie demokratische Wurzeln, aber sie ist populär, auch in Anklam, Rostock und Pasewalk. Damit verbunden ist der Glaube, es ginge weniger kriminell und unsicher zu, wenn alle nur deutsch genug wären. Ganz so, als könnte ein Serienmörder oder Vergewaltiger nicht auch Karl-Heinz heißen.
 
AfD gegen die eigene Ohnmacht
 Die Neue Rechte hat ihre ideologischen Wurzeln im Gegensatz zur Alten Rechten nicht im Nationalsozialismus, vielmehr beruft man sich auf Vorstellungen der sogenannten Konservativen Revolution der Weimarer Republik und der französischen Nouvelle Droite, was im Übrigen sogar die NPD tut. Schon in der Weimarer Republik sah Oswald Spengler das Abendland untergehen, träumte Staatsrechtler Carl Schmitt vom Pluriversum der Völker. Wer heute wieder Blut- und Boden-Phantasien reanimiert und sich dabei auf die Nationalrevolutionäre von damals beruft, muss wissen: Auch die Konservativen Revolutionäre waren keine Demokraten, sondern Anti-Demokraten, heute würde man Rechtsextremisten sagen, die das vermeintlich degenerierte parlamentarische „Schwatzbudensystem“ überwinden und durch ein „organisch“ gewachsenes System ersetzen wollten, in dem ein autoritärer Herrscher den Willen der homogenen Volksgemeinschaft zum Ausdruck bringt.

Nun leben wir nicht in der Weimarer Republik und viele, die in Mecklenburg-Vorpommern und anderswo AfD wählen oder für sie kandidieren, wollen einfach ihrer Ohnmacht Luft machen, sie wollen gehört werden, aufrütteln; wollen, dass ihre Ängste ernst genommen werden und ihr Bedürfnis nach Sicherheit erfüllt wird. Unter Kandidaten und Wählern finden sich Enttäuschte und solche, die einfach nur wollen, dass es besser wird – in ihrer Stadt, für ihre Familien, für Deutschland. Das ändert nichts daran, dass die AfD mit ihren Zielen und ihrer Rhetorik der Demokratie schadet. Dass sie antidemokratische Stimmungen bedient, Hass gegen Migranten schürt und Radikalisierung betreibt. Und dass auch jeder Wähler mit einer Stimme für die AfD mitradikalisiert, Protest hin oder her.
 
Parallelen zur Weimar Republik
Es gibt bei allen Unterschieden beunruhigende Parallelen zur Endphase der Weimarer Republik. Wie damals macht sich auch heute Demokratieverachtung breit. Auch in der AfD spricht man von etablierten oder „Altparteien“. Gewählte Volksvertreter werden pauschal als Teil einer abgehobenen „Elite“ denunziert. Anders als bei berechtigter Kritik an der konkreten Einflussnahme von Lobbyisten werden alle Demokraten über einen Kamm geschoren und verunglimpft. Die demokratisch gewählte Kanzlerin wird von AfD-Vize Gauland und anderen als „Kanzler-Diktatorin“ diffamiert, auf der Straße schallt ihr „Volksverräter“ entgegen, weil sie sich am vermeintlich einheitlichen „Volkswillen“ versündigt, den es in einer Demokratie mit unterschiedlichen Interessen gar nicht geben kann. Diffamierung ist nicht die Sprache und der Diskurs von Demokraten, sondern von Demokratieverächtern. Umgekehrt verstehen sich Anhänger von Pegida bis AfD als Bewegung gegen die politischen Eliten, wobei von den Grünen bis zur CDU alle zu Volksfeinden stilisiert werden. Wer Frauke Petry in Talk-Shows zuhört, könnte meinen, dass alle lügen – nur die AfD nicht.

Eine beängstigende Parallele zu den 1930er Jahren ist die verbale Radikalisierung und damit einhergehende Entmenschlichung von politischen Gegnern und Minderheiten. Im Internet wird Migranten und politischen Gegnern wahlweise mit Erhängen, Ersäufen im Mittelmeer oder Messerstößen in den Leib gedroht. Gewalt wird angedroht oder legitimiert, etwa als Notwehrakt gegen ungewollte Asylheime, weil ja aufs Volk nicht gehört werde. Die rechte Gewalt hat einen Höchststand erreicht. Das löst längst keine Lichterketten mehr aus, sondern ist Teil einer hingenommenen Normalität geworden. Die AfD heizt mit Tabubrüchen und Provokationen immer wieder die Stimmung an. Wenn etwa Frauke Petry über Schüsse auf Flüchtlingskinder an der Grenze schwadroniert oder Alexander Gauland und Beatrix von Storch beim Anblick leidender Flüchtlingskinder Härte und Mitleidlosigkeit predigen. Hier liegt im Übrigen die Trennlinie zum Konservativen. Als gläubiger Christ ist man dem Mitmenschen verpflichtet, als neurechter Kulturkämpfer nur dem eigenen Volk.
 
Rechte Allmachtsfantasien
Der politische Diskurs verroht zusehends. AfD-Funktionär Markus Frohnmaier hat gedroht: „Wenn wir kommen, dann wird aufgeräumt, dann wird ausgemistet, dann wird wieder Politik für das Volk, und zwar nur für das Volk gemacht. Denn wir sind das Volk, liebe Freunde.“ Da steckt alles drin. Das Selbstverständnis als Bewegung. Die Ankündigung politischer Säuberungen. Die Aussicht auf Wohltaten für die Volksgemeinschaft, exklusiv für Deutsche. Das mag erst mal nur Maulheldentum sein, aber diese autoritären Allmachtsfantasien darf man in der AfD nicht nur ungestraft verbreiten, sie sind vielmehr Teil des Erfolgsrezepts. Die AfD wird wie schon die NPD nicht trotz ihrer radikalen Parolen gewählt, sondern genau deswegen.

Die weltweit um sich greifende Sehnsucht nach Autorität und politischer Führung gibt es auch in der deutschen Gesellschaft, auch im kleinsten Dorf in der vorpommerschen Provinz. Während Bundeskanzlerin und Bundespräsident mancherorts zu Hassobjekten geworden sind, die angefeindet werden, das eigene Volk zu verraten, verehren dieselben Milieus ausgerechnet Wladimir Putin, der rücksichtslos gegen Oppositionelle und unliebsame Journalisten vorgeht und Russland längst autoritär mit harter Hand von oben regiert.
 
Das kalte Herz der AfD
Was passiert also, wenn die AfD bei Wahlen 15, 20 oder 25 Prozent der Stimmen holt? Verändert sich dadurch das Land? Kann es nicht sein, dass ein Wahlerfolg der AfD lediglich bewirkt, dass wieder Politik für „die kleinen Leute“ gemacht wird? Zunächst mal ist die AfD gar keine Partei der kleinen Leute, sondern eine, die sich nicht mal geschlossen zum Mindestlohn bekennen kann, die im Gegenteil Besserverdienende entlasten will. Die „kleinen Leute“ sind für sie nur Mittel zum Zweck auf dem Weg zur Macht. In ihren Programmen zeigt sie ein kaltes soziales Herz. Aber selbst, wenn sie wirklich sozial wäre, bliebe sie dabei stets national. Nationalsozial? Richtig, da war doch was. Kindergärten sollen nämlich „für unsere eigenen Kinder“ sein, wie Gauland gesagt hat, also nur für deutsche Kinder. Könnte die AfD die Richtung des Landes bestimmen, würde sie nicht versuchen, Menschen unterschiedlicher Herkunft zu integrieren, sondern die Gesellschaft weiter spalten und Migranten diskriminieren, obwohl Deutschland dringend darauf angewiesen ist, dass Zuwanderer kommen und mitarbeiten.

Vielerorts haben es Menschen aufgrund ihrer Haut- der Haarfarbe in Deutschland schon heute schwer. Rassistische Anfeindungen und auch Straftaten gibt es täglich, überall im Land. Seit Pegida und AfD erfolgreich sind, ist die rechte Gewalt explodiert. Wer Abstammung zum entscheidenden Kriterium dafür macht, ob man in dieser Gesellschaft teilhaben darf – der züchtet das Ressentiment und den Hass auf alles, was fremd erscheint. Das Perfide an Gaulands Aussagen über Boateng als unerwünschten Nachbarn war, dass er sich dabei hinter einem vermeintlich gesunden Volksempfinden zu verstecken versucht hat. Gauland selbst hat ja nichts gegen solche wie Boateng. Aber die Leute, ja die Leute.
 
Blut und Boden – allen Dementis zum Trotz
Das ist Rassismus a la AfD. Man bedient Vorurteile, behauptet, sie seien so tief in der Bevölkerung verankert, dass sie durch keine Integration zu überwinden seien. Und huldigt derweil der völkischen Nation wie Beatrix von Storch, wenn sie nach dem Ausscheiden der deutschen Fußball-Nationalmannschaft bei der EM via Twitter süffisant anregt, künftig doch wieder mit einer echten Nationalmannschaft anzutreten. Soll heißen: Um ein richtiger, Storch-gefälliger Deutscher zu sein, reicht es nicht, den deutschen Pass zu besitzen. Man muss auch die richtige Hautfarbe und den richtigen Namen haben, deutsches Blut eben. Pech für Mesut, Jerome und Shkodran. Solche rassistischen Träumereien pflegte lange nur die NPD, die ebenfalls eine „echte“ Nationalmannschaft herbeizujammern versuchte. Wenn man die Storchs und Gaulands beim Wort nimmt, geht es bei der AfD allen kreidefressenden Selbstbekundungen zum Trotz eben doch um Blut und Boden. Die AfD muss sich nicht nur an ihren Programmen messen lassen, sondern auch an ihrer Hetze auf Marktplätzen, an zynischen Twitter-Botschaften und produziertem facebook-Hass.

Zum Markenkern der AfD gehört es, sozial schwache Deutsche gegen Flüchtlinge aufzuwiegeln. Wer das tut, weiß, dass er nicht nur sozialen Unfrieden sät, sondern auch Gewalttaten gegen Fremde provoziert. Der dramatische Anstieg rechter Gewalt im Zuge fremdenfeindlicher Mobilisierung ist eindeutig belegt. Die richtige Reaktion auf die Mobilisierung des Ressentiments ist für die demokratischen Parteien ganz sicher nicht, völkischen Nationalismus und irrationale Ängste selbst anzufüttern. Das bringt nicht die erhofften schmutzigen Stimmen, sondern treibt im Gegenteil den Radikalen noch mehr Wähler zu. Opportunistisches Fischen im trüben braunen Angst-Reservoir wird vom Wähler abgestraft. Vielmehr braucht es Courage, den Angsttreibern zu widersprechen und für ein freies, offenes, lässiges und vielfältiges Deutschland einzustehen. Davor drücken sich derzeit allzu viele Politiker, Dichter und Denker.
 
Sozial, aber mit Haltung!
Haltung ist das eine. Aber Politik muss sich auch kümmern. Eine richtige Strategie wäre, für sozial Schwache eine neue soziale Politik zu machen. Wie die aussehen könnte – darauf haben weder CDU noch SPD derzeit überzeugende Antworten. Die sogenannten Rechtspopulisten malen beständig den Teufel an die Wand. Alles gehe vor die Hunde, weil alles für Flüchtlinge getan werde und nichts für die Deutschen. Wirklich? Tatsache ist, dass es dem Land so gut geht wie lange nicht. Niedrige Arbeitslosenquote, Milliarden-Steuerüberschüsse. Die vielbeschworene große Krise gibt es nicht. Allerdings klafft die Schere zwischen oben und unten immer weiter auf. Wer rechten Menschenfängern das Geschäft vermasseln will, muss sich um die Harzer, die Langzeitarbeitslosen und die verarmten Rentner kümmern. Um die Abgehängten, die keine Aussicht auf Besserung ihrer Lage haben. Es braucht mehr Ausgleich und weniger soziale Ungleichheit. Einerseits.

Andererseits speisen sich Rassismus und Fremdenfeindlichkeit nur teilweise aus sozialer Not. Die AfD zieht einer DIW-Studie zufolge immer stärker überzeugte Rechtsextremisten an. Nach dieser Studie ist die Partei zudem zunehmend für Männer interessant, vor allem für junge und solche mit schlechter oder mittlerer Bildung, die in Ostdeutschland leben und sich große Sorgen wegen der Zuwanderung und der wirtschaftlichen Lage machen. Diese Merkmale trifft man abseits der touristischen Schönheiten an der Ostsee, funktionierender Städte wie Greifswald und weniger Metropolen wie Rostock vielerorts in Mecklenburg-Vorpommern.
 
Impressionen aus Anklam
Bei meiner kleinen Lese-Reise durch Mecklenburg-Vorpommern habe ich mit meinem Verleger einen kurzen Abstecher nach Anklam gemacht. Die ersten Einwohner, die ich am Ortseingang sah, waren zwei mittelalte Männer mit Nazi-Symbolen auf der Kleidung. Auf dem schmucken neuen Marktplatz saßen am frühen Nachmittag junge Männer biertrinkend auf den Bänken und verfolgten argwöhnisch, wer ihnen da über den Weg läuft. Vor einem idyllischen Café fuhr ein Mann mit Wehrmachtshelm auf einem Motorroller vorbei, auf der Jacke prangte am Rücken eine rechte Parole. Und schließlich fuhr, als wir Anklam verließen, ein junger Mann vor uns her, auf dessen Auto ein Thor Steinar-Aufkleber die rechte Gesinnung zur Schau stellte. Die Realität hatte das Klischee an diesem Tag überholt.

Der Journalist Raphael Thelen besuchte kürzlich auf seiner Recherche-Reise durch Mecklenburg-Vorpommern ein Volksfest in Anklam. Er hat diese deutsche Normalität, das Nebeneinander von allgegenwärtiger rechter Gesinnung und der resignierten bis wurschtigen Gewöhnung daran eindrucksvoll beschrieben. Während ihm junge Männer und Frauen erzählten, wie lebens- und liebenswert Anklam doch sei, wurde sein Fotograf von rechten Aktivisten bedroht und attackiert. Anklam hat sich an seine Rechtsextremisten gewöhnt. So wie sich viele in Mecklenburg-Vorpommern an die NPD gewöhnt haben. Was normal ist, regt keinen mehr auf. Dann gehören Hass auf Fremde, Verehrung von Nazis und Machtergreifungsfantasien eben dazu.
 
 
Schleichendes Gift
Gewöhnung an das Unerträgliche ist das schleichende Gift in einer Demokratie. Ich kenne das aus Sachsen, wo man sich vielerorts an rechte Gewalt gewöhnt hat, bis sie als normal empfunden wird. Das Muster ist stets gleich. Die Opfer rechter Gewalt stehen als Nestbeschmutzer da, wenn sie offen aussprachen, was jeder weiß. Die Grundrechte sind für sie bisweilen außer Kraft gesetzt. Sie können sich weder frei bewegen, noch offen ihre Meinung sagen. Es geht aber längst um mehr. Jeder kann herbeisehnen, was er mag. Aber als politisches Konzept ist die Sehnsucht nach ethnischer Reinheit für alle Zeiten diskreditiert. Bestenfalls folgt daraus Diskriminierung, schlimmstenfalls enden solche Versuche im Völkermord.

Fremdenfeindlichkeit darf nicht regieren, auch nicht im Miniaturformat als stillschweigender Konsens der Einheimischen eines Ortes. Eine Gesellschaft darf nicht hinnehmen, dass eine Region für Minderheiten de facto als Wohnort ausscheidet, wenn die Hautfarbe zu dunkel oder der Glaube muslimisch ist. Da braucht es keine sozialen Wohltaten, sondern die demokratische Haltung von Bürgermeistern, Lehrern, Priestern, Vereinsmitgliedern und Bürgern. Auch vor einer Wahl. Wo waren die SPD und die CDU in jenen kleinen Orten, die von AfD und NPD mit Plakaten zugekleistert wurden? Wer Menschen abschreibt, darf sich nicht wundern, dass er sie verliert.

Der größte Fehler wäre, die Stimmen für die AfD einzig unter Protest zu verbuchen. Wer das tut, verkennt, dass sich die Neue Rechte formiert, vernetzt und strategisch vorgeht, um dieses Land systematisch nach ihren völkischen Vorstellungen umzukrempeln. Die Publizistin Liane Bednarz hat darauf früh hingewiesen. AfD-Provokateur Björn Höcke hat seine krude Rassen-Rede nicht zufällig bei Götz Kubitschek gehalten, der Leitfigur der Neuen Rechten, der wiederum auf seinem Rittergut in Schnellroda neurechte Akteure vernetzt. Es ist richtig, dass nicht alle in der AfD der Neuen Rechten zuneigen. Aber auch Jörg Meuthen und Alexander Gauland verbrüdern sich mit Björn Höcke. Ohne die Neue Rechte geht nichts in der AfD.

Die Medien haben sich angewöhnt, das Phänomen der Neuen Rechten als rechtspopulistisch zu bezeichnen, weil deren politische Akteure zumeist nicht offen gegen die parlamentarische Demokratie agitieren und sich nicht auf den historischen Nationalsozialismus berufen. Übersehen werden offenkundige Parallelen zu den faschistischen und völkischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts, was Rhetorik, Auftreten und Ideologie angeht – das Verständnis als Bewegung, die Irrationalität, die Demokratieverachtung und das Gesellschaftsideal der homogenen Volksgemeinschaft. Die Neue Rechte gibt sich modern, aber sie ist rückwärtsgewandt und radikal. Sie predigt ein Ideal ethnischer Reinheit, das weder realisierbar noch wünschenswert ist.
 
Die Identitäre Bewegung ist der junge, aktionistische Arm der Neuen Rechten. Auf ihrer Internetseite schrieb die Patriotische Plattform, ein Bündnis innerhalb der AfD: „Wir wünschen uns eine engere Zusammenarbeiten [sic!] zwischen Identitärer Bewegung und AfD, denn auch die AfD ist eine identitäre Bewegung und auch die Identitäre Bewegung ist eine Alternative für Deutschland.“ Einig ist man sich darin, für homogene, unvermischte Völker und Kulturen zu kämpfen. Nein, die AfD kann kein demokratisches Unbedenklichkeits-Siegel für sich beanspruchen, nur weil sie nicht vollends ins definitorische Raster des Rechtsextremismus passt. Sie ist radikal. Ihre Ideologie weist Schnittmengen zur NPD auf. Spekulationen über eine mögliche Zusammenarbeit sind kein Zufall.
 
Neulich sind Aktivisten der Identitären Bewegung, die mittlerweile Ableger in verschiedenen Bundesländern hat, aufs Brandenburger Tor geklettert und haben ein Transparent entrollt, auf dem stand: „Sichere Grenzen – Sichere Zukunft“. Ein echter Medien-Scoop mit spektakulären Action-Fotos von waghalsigen jungen Männern. Auch die Identitären haben bei der französischen Nouvelle Droite abgeschrieben und fordern den Erhalt der Vielfalt der Kulturen. Klingt gut, klingt harmlos. Könnte jeder zustimmen, nicht nur Wähler der AfD. Auf Facebook kann man sehen, was diese heimatliebenden jungen Leute so treiben, wenn sie sich in Frankreich mit Gleichgesinnten treffen. Dann stehen sie in Reih und Glied stramm oder bereiten sich mit synchron in Formation ausgeführten Liegestützen und Hockstrecksprüngen auf was auch immer vor. Dabei tragen sie übrigens keine braunen Hemden, sondern blaue T-Shirts. Ist ja nicht so, dass man nichts aus der Geschichte gelernt hätte.
 
 
Michael Kraske, 44, lebt als Journalist und Buchautor in Leipzig. Im März erschien im freiraum-verlag sein literarisches Debüt „Vorhofflimmern“. Der Roman erzählt die Geschichte einer Hamburger Familie, die in die sächsische Provinz auswandert und in dem fiktiven Ort Liebbrehna an der Gewalt der „Heimatwächter“, der Ignoranz ihrer Mitbürger und eigenen Heimlichkeiten zu zerbrechen droht. Der Autor schreibt als Journalist u.a. für stern und Die Zeit und wurde mehrfach für seine Arbeit ausgezeichnet. Die Reportage „Mein Nachbar, der Neonazi“ stand auf der short list des Henri-Nannen-Preises.